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„Man ist sehr menschenscheu geworden in dieser Zeit.“ – Der Fall Albert Pflüger, Oberregierungsrat im Württembergischen Wirtschaftsministerium

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Oberregierungsrat Albert Pflüger, Aufnahme aus den 1920er Jahren, HStA Stuttgart, J 483/5

Mitte März 1933 stellte sich der neue Wirtschaftsminister Wilhelm Murr seinen Beamten vor. Albert Pflüger, Oberregierungsrat in diesem Ministerium, schilderte 1945 eine der ersten Amtshandlungen des neuen Vorgesetzten: „Eine Viertelstunde danach [nach der Vorstellung] hatte ich seinen ersten Erlass in der Hand. Er betraf das Verbot einer weiteren Dienstausübung durch mich auf die Dauer von 3 Monaten […].“ Im April 1933 wurde Pflüger nach den Bestimmungen des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen.

Er war aber auch nicht irgendein Beamter. Frank Raberg, der seine Leistung als „Parlamentarier zwischen Monarchie und Bundesrepublik“ gewürdigt hat, bezeichnet ihn als einen „der bedeutendsten Köpfe der württembergischen Sozialdemokratie“. Pflüger wurde am 7. November 1879 in Dettingen geboren. Nach dem Besuch der Volksschule begann er in Kirchheim eine Berufsausbildung zum Buchdrucker. 1898 trat er der SPD bei. 1904 holte ihn sein Parteifreund Fritz Ulrich ins Landessekretariat der Partei und in die Redaktion der SPD-nahen Schwäbischen Tagwacht. Ein Jahr später wurde Pflüger in den Stuttgarter Bürgerausschuss gewählt. 1913 wurde Pflüger bei einer Ersatzwahl in die zweite Kammer des württembergischen Landtags gewählt. Nach dem revolutionären Umsturz wurde er Mitglied der verfassungsgebenden Landesversammlung und 1920 Mitglied des Landtags des Volksstaats Württemberg, dem er bis 1933 angehörte. 1921 bis 1928 amtierte er als dessen zweiter Vizepräsident, 1928 bis 1932 als Landtagspräsident.

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Mangelsituation der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte sein Eintritt in die staatliche Verwaltung. Ende 1919 übernahm er die Leitung des Landesbrennstoffamts. Den Verdiensten, die er sich in diesem Amt erwarb, verdankte er die von Arbeits- und Ernährungsminister Wilhelm Keil – wie Pflüger Sozialdemokrat, dazu ehemaliger Kollege bei der Schwäbischen Tagwacht und Mitglied der Landtagsfraktion – betriebene Ernennung zum Regierungsrat im Jahr 1922. Zwei Jahre später, nach der Auflösung des Landesbrennstoffamtes, wurde Pflüger Hilfsberichterstatter im Sozialen Referat des späteren Wirtschaftsministeriums. 1928 bis 1932 war als Landtagspräsident von der Dienstausübung verhindert. 1930 erfolgte die Ernennung zum Oberregierungsrat.

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Schreiben zur Beurlaubung Albert Pflügers mit Kürzel von Reichsstatthalter Murr vom 17. März 1933, HStA Stuttgart, EA 6/150 Bü130/Bl. 50

Pflüger war – nicht nur als Präsident des Landtags – einer der exponiertesten Vertreter der württembergischen SPD und wurde so schon vor der Machtübernahme im Reich und den Ländern durch die Nationalsozialisten zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Der NS-Kurier attackierte ihn in seiner Ausgabe vom 8./9. Januar 1933 unter dem Titel „Die Karriere des Herrn Pflüger. Vom Schriftsetzer zum Oberregierungsrat – alles auf Grund seines Parteibuches“ scharf, indem die vorläufigen Ergebnisse eines von den Nationalsozialisten durchgesetzten Untersuchungsausschusses des Landtags unter Auslassung zahlreicher, für Pflüger entlastender Details breitgetreten wurden. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, der entgegen der Intention und Propaganda der Nationalsozialisten schließlich mehr die Nichtexistenz als die Existenz von Parteibuchbeamten zutage förderte, hatte für Pflüger zunächst keine Konsequenzen – bis zu jenem Tag im März, an dem ihn Wilhelm Murr, so Pflüger, „durch eine gewaltsame Rechtsauslegung“ des württembergischen Beamtengesetzes suspendierte. Wenige Wochen später und als einer der ersten Beamten in Württemberg wurde Pflüger nach §2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen. Hierbei handelte es sich – so äußerten jedenfalls Betrachter in der Rückschau – um eine in Württemberg einmalige Besonderheit: Pflüger sei nicht etwa entlassen worden, weil seine bisherige politische Betätigung keine Gewähr dafür geboten habe, dass er rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintrete (§ 4), sondern weil er nicht die Vorbildung und sonstige Eignung besessen habe bzw., wie die dritte Verordnung zur Durchführung des Berufsbeamtengesetz, die allerdings erst nach der Entlassung veröffentlicht wurde, präzisierte, er nicht die notwendige Lauterkeit der Gesinnung zum Amte besessen habe und zudem in Führung des Amtes die Eignung nicht bewiesen habe. Eine Folge der Anwendung des §2 auf den Fall Pflüger – im Gegensatz zu §4 – waren die wegfallenden Versorgungsansprüche. Es konnte lediglich „im Falle der Bedürftigkeit“ eine „jederzeit widerrufliche Rente bis zu einem Drittel des jeweiligen Grundgehalts“ gewährt werden.

Wie aber agierte das Wirtschaftsministerium – und hier insbesondere der Leiter der Kanzleidirektion, Heinrich Münzenmaier, und der Ministerialdirektor Ewald Staiger? Darüber finden sich in der Personalakte Pflügers nur wenige Hinweise. Diese jedoch deuten auf eine peinlich berührte Pflichterfüllung hin, etwa als sich der Kanzleidirektor Münzenmaier angesichts eines Entwurfs des Entlassungsantrages nach §2 bemüßigt fühlte, am Rande ausdrücklich zu bemerken: „Der Antrag wurde vom Staatsministerium (Staatsrat Waldmann) gewünscht.“ Ein ebensolches ‚Unwohlsein‘ angesichts des Umgangs mit einem langjährigen Kollegen spricht aus dem Entwurf eines Schreibens an das Staatsministerium vom Juli 1933. Pflüger hatte unterdessen, am 29. Mai 1933, angeführt, sowohl für die Übernahme des Landesbrennstoffamtes geeignet gewesen zu sein, als auch diese Eignung auch durch die Führung des Amts nachgewiesen zu haben. Das Wirtschaftsministerium – wer genau sich für den Entwurf verantwortlich zeigte, ist nicht zu entnehmen – wollte den Bemerkungen Pflügers nicht beipflichten. Eine besondere Eignung habe nicht vorgelegen, es müsse aber „immerhin anerkannt werden, dass Pflüger das ihm im Jahr 1919 übertragene Amt […] sachlich und einwandfrei geführt hat. Es könnte daher an sich die Bewilligung einer Rente an Pflüger in Betracht gezogen werden […]. Solange sich jedoch Pflüger in Schutzhaft befindet, glaube ich von einem entsprechenden Vorschlag Abstand nehmen zu müssen.“ Letztendlich aber konnten diese vorsichtigen Sondierungen zugunsten der Gewährung einer Rente keinen Erfolg zeitigen, zumal, wie das Ministerium feststellte, dieser eine solche auch nicht beantragt habe. Die Entscheidung wurde schließlich auch nicht durch das Ministerium, sondern durch den zum Reichsstatthalter aufgestiegenen Gauleiter Wilhelm Murr getroffen. Dieser ließ dem Wirtschaftsministerium durch den Staatssekretär Waldmann mitteilen, dass eine Rente für Pflüger nicht in Betracht komme.

Wie zahlreiche weitere württembergische Politiker war auch Pflüger im Juni 1933 ins Konzentrationslager Heuberg gebracht worden. Nach der einmonatigen Schutzhaft schlug er sich als Versicherungsvertreter und Gelegenheitsarbeiter durch. 1939 wurde ihm, nach Vollendung des 60. Lebensjahres, eine Rente von monatlich 88 Reichsmark gewährt. Dies entsprach weniger als zehn Prozent seines früheren Einkommens. 1940 fand er einen festen Arbeitsplatz als Korrektor. Zur wirtschaftlichen Schädigung kam die gesellschaftliche Ächtung, so dass Pflüger 1945 anmerkte: „Man ist sehr menschenscheu geworden in dieser Zeit.“ 1944, als das NS-Regime den Fehlschlag des Attentats vom 20. Juli zur Verhaftung auch unbeteiligter politischer Gegner nutzte, wurde er erneut verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Kurz vor Kriegsende wurde er entlassen und kehrte krank, aber am Leben, nach Stuttgart zurück.

Nach Aufhebung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch die Alliierten beschäftigte das Wirtschaftsministerium ihn wieder als Oberregierungsrat. Zum 1. Januar 1946 wurde er, nachdem er Ende des Vorjahres mit der Leitung des Landesgewerbeamts betraut worden war, zum Ministerialrat mit dem Titel Präsident befördert. 1950 trat Pflüger mit nunmehr 71 Jahren in den Ruhestand. Seine berufliche, nicht aber die politische Tätigkeit ging damit zu Ende. Bereits seit 1946 hatte Pflüger der Vorläufigen Volksvertretung für Württemberg-Baden, der Verfassungsgebenden Landesversammlung und dem Landtag angehört. 1952/3 war er erneut Mitglied einer verfassungsgebenden Landesverfassung, diesmal für den neuen Südweststaat. 1955 legte er sein Landtagsmandat nieder. Pflüger starb am 11. Mai 1965 in Stuttgart.

Quellen:

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 6/150 Bü 130.

Raberg, Frank: Albert Pflüger (1879–1965). Parlamentarier zwischen Monarchie und Bundesrepublik. In: Schwäbische Heimat 47 (1996). S. 135-147.

 

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