Rücksichtslos und moralfrei: Der Bergingenieur Wilhelm Peter Lillig
Der folgende Beitrag stammt von dem Autor des kürzlich erschienen Buchs „Eisen schaffen für das kämpfende Heer“. Die Doggererz AG – ein Beitrag der Otto-Wolff-Gruppe und der saarländischen Stahlindustrie zur nationalsozialistischen Autarkie- und Rüstungspolitik auf der badischen Baar, Konstanz/München 2016. Dieses befasst sich mit einem auch von der badischen Landesregierung vorangetriebenen Projekt: dem Abbau von Eisenerz in Blumberg, der einen Beitrag zur wirtschaftlichen Autarkie des „Dritten Reichs“ leisten sollte.
Am 24. Mai 1945 verstarb der 44-jährige Internierte Wilhelm Peter Lillig in Hinterzarten. Der diplomierte Bergingenieur hatte dort zuletzt als Beauftragter des Reichsführers SS Heinrich Himmler (Dienststelle: Oberkommando des Heeres, Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres) ein neun Mann starkes Büro geleitet und war nach Kriegsende von der französischen Besatzungsmacht zum Munitionsräumen eingesetzt worden. Bei diesem gefährlichen Einsatz löste sich ein Schuss aus einer geborgenen Waffe und traf ihn tödlich. Ob der tragische Unfall große Betroffenheit bei allen Menschen hervorrief, die mit ihm während der Zeit des „Dritten Reichs“ in Württemberg und in Baden zu tun hatten, wird man bezweifeln können.
Lillig war am 19. September 1900 als Sohn eines Baumeisters im saarländischen Landsweiler geboren worden. Nach dem Abitur, das er 1919 in Saarbrücken ablegte, studierte er von 1920 bis 1924 Bergbau in Clausthal und arbeitete bis 1929 als Montangeologe und Ingenieur in mehreren bolivianischen Blei- und Zinkerzgruben. 1929 wechselte er als technischer Direktor zur spanischen Erzhandelsfirma Bicker in Bilbao; drei Jahre später übernahm er den Direktorenposten des Skaland-Grafitwerks in Senjen (Norwegen). 1932 fand seine Promotion zum Dr.-Ing. an der TH Berlin statt. Politisch stand der Mann schon als Student im rechtsextremen Lager: Eigenem Bekunden zufolge hatte er sich im Jahre 1923 dem Nationalsozialismus zugewandt.
1933 sah sich Lillig nach einer Stelle in Deutschland um. Seine Berufserfahrung und seine politische Präferenz waren eine starke Empfehlung für einen Posten, den der rechtsextreme Saarindustrielle Hermann Röchling zu vergeben hatte. In Südbaden, nahe dem kleinen Dorf Blumberg, wollten sich die im saarländischen Völklingen beheimateten Röchlingschen Eisen- und Stahlwerke und deren Geschäftspartner, das Neunkircher Eisenwerk, eine neue, vom Bezug französischer Minetteerze unabhängige Rohstoffbasis erschließen. Anfang 1934 wurde Lillig von Röchling als Geschäftsführer des neu aufzubauenden Bergbaubetriebs engagiert. Der badische Ministerpräsident und Finanz- und Wirtschaftsminister Walter Köhler, der mit Lillig in seiner Eigenschaft als oberster Bergbauchef im Lande häufig Kontakt hatte, zeichnete in seinen Erinnerungen ein eher wohlwollendes Bild des Mannes: Demnach hatte Hermann Röchling mit Lillig „einen Haudegen angeheuert, der wie ein Kerl von einem anderen Stern in die friedliche Schwarzwaldidylle einbrach. Teils Antreiber, teils Kumpel, aber immer mit vollem Einsatz, war er der Mann, auf der grünen Wiese ein Unternehmen […] hinzustellen, und andererseits mit seinem Haufen bei den Bergmannsfesten derart auf den Putz zu hauen, daß den biederen Schwarzwäldern Angst und Bange wurde. Da er außerdem eifrig bestrebt war, das Schwarzwälder Blut aufzunorden, machte er sich bei den Eltern seiner Auserwählten wenig beliebt, sodaß Klagen über Klagen zu mir gelangten. Ich hielt ihm die Stange, schließlich wurde es ihm doch zu mulmig und er verschwand.“
Was Köhler nachträglich zu einer harmlosen Posse verklärte, hatte einen bedrückenden Hintergrund: Lillig führte seinen Bergbaubetrieb in einer Weise, die dem parteiamtlich propagierten Ideal einer „Volksgemeinschaft“ offen Hohn sprach. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren derart unsozial, dass es zu massiven Protesten unter der Belegschaft kam. Köhler und sein Innenminister Karl Pflaumer verhinderten, dass es zu einer Verbesserung der Situation kam und wehrten unliebsame Kontrollen durch die Deutsche Arbeitsfront rigoros ab. Lillig selbst forderte im Herbst 1935 sogar die Gestapo zu drastischen Säuberungen in seinem Betrieb auf. Dass es nicht dazu kam, lag vor allem am Arbeitsamt Villingen, dessen Leiter zu der Feststellung gelangte: „Die Arbeiter machen offen gestanden einen so abgerissenen Eindruck, dass es wunder nehmen muss, dass überhaupt die Arbeit noch weiter durchgeführt wird und dass noch keine offene Revolte ausgebrochen ist.“ Auch die von Wilhelm Lillig alarmierte Gestapo befand, die Blumberger Bergleute seien Arbeitsbedingungen ausgesetzt, „die in einem nationalsozialistischen Deutschland unmöglich sein sollten.“ Ende 1935 verlor Lillig seinen Posten wegen betriebswirtschaftlicher Inkompetenz. Sein Arbeitgeber ließ dessen Tätigkeit später von externen Gutachtern untersuchen und bekam bescheinigt, der Mann habe „in unverantwortlicher Weise seine Befugnisse überschritten“, „persönlich sich Rechte angemaßt und Gelder zugeführt“, was als ein Verhalten zu werten sei, „welches hart an die Grenze der geschäftlichen und persönlichen Moral streift.“
Köhler hielt Lillig Anfang 1936 mit einem Staatsauftrag wirtschaftlich über Wasser, bis dieser einen Posten in der Berliner Vierjahresplan-Organisation fand: 1936 wurde er Referent im Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe, das die Aufrüstung mit Härte und Brutalität gegenüber der Wirtschaft vorantrieb. Als Erzsachverständiger setzte er nun seinen früheren Arbeitgeber unter Druck. Sein Mentor war Paul Pleiger, der spätere Initiator und Vorstandsvorsitzende der Reichswerke Hermann Göring. Pleiger machte seinen neuen Mitarbeiter 1938 zum Leiter der Bergbaugruppe Salzgitter der Reichswerke Hermann Göring. Nach Kriegsbeginn nahm Lillig nebenamtlich zahlreiche Sonderaufgaben wahr, darunter die Funktionen eines Reichskommissars für den Steinkohlenbergbau im Olsagebiet (1939) und eines Sonderbeauftragten für den Erzbergbau in der Ukraine (1941). In letzterer Position war er verantwortlich für die Wiederingangsetzung des Eisenerzbergbaus in den eroberten Ostgebieten. 1944 wurde Lillig zum Stellvertretenden Leiter der Zentralstelle für bergbauliche Sonderaufgaben bei den „Reichswerken Hermann Göring“ ernannt, deren Aufgabe in der Unter-Tage-Verlagerung der luftgefährdeten deutschen Industrie bestand.
Lilligs hohe Verantwortung für das „UT-Programm“ und seine dauerhafte Präsenz vor Ort als leitender Funktionär auf mehreren Baustellen im südwestdeutschen Raum und im Elsass (darunter die die Auslagerung von Flugmotorenwerken nach Obrigheim bzw. Markirch betreffenden Projekte Goldfisch und Kiebitz), bei denen zahlreiche SS-Häftlinge geschunden wurden und zu Tode kamen, wirft einen tiefdunklen Schatten auf den Lebenslauf des ehrgeizigen Bergingenieurs. Man wird ihn zu den rücksichtslosen und moralfreien Technokraten des „Dritten Reichs“ zählen müssen, die ihre inferioren Persönlichkeitsanteile ungezügelt ausleben konnten.
Verwendete Quellen:
Archiv des katholischen Pfarramts Blumberg, Bestand XXII; Bundesarchiv Berlin, R 3101/31208, 31216, 31218, 31220; Bundesarchiv Berlin, Bestand Berlin Document Center, Fasz. PK-Ende, Konrad; Corps Montania, Clausthal-Zellerfeld, Nachruf Lillig; Niedersächsisches Wirtschaftsarchiv Wolfenbüttell, Fasz. 2/5446-5447, 2/10540, 2/11015, 2/11020, 2/11187-11188; Staatsarchiv Freiburg, V 500/3 Fasz. 100., Bericht Gärtner/Dr. Würtz [01.04.1936]; Stadtarchiv Blumberg, Bergwerksakten; Stadtarchiv Hinterzarten, mdl. Auskünfte; Stadtarchiv Weinheim, Rep. 36 Nr. 4298, Walter Köhler, Lebenserinnerungen [1976], S. 203 f.
Verwendete Literatur:
Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Berlin 1965, Band II, hier: S. 463; Rainer Fröbe, „Wie bei den alten Ägyptern“. Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen nach Obrigheim am Neckar 1944/45, Nördlingen 1987, S. 413, Anm. 137; Matthias Riedel, Bergbau und Eisenhüttenindustrie in der Ukraine unter deutscher Besatzung (1941-1944), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 21 (1973), S. 245-284, hier: S. 251 ff.; Klaus Riexinger/Detlef Ernst, Vernichtung durch Arbeit. Rüstung im Bergwerk, Tübingen 2003, hier: S. 87 ff.; Karl Heinz Roth/Michael Schmid/Rainer Fröbe, Die Daimler-Benz AG 1916-1948, Nördlingen 1987, hier: S. 339.
Weiterführende Literatur:
Wolf-Ingo Seidelmann, „Eisen schaffen für das kämpfende Heer“. Die Doggererz AG – ein Beitrag der Otto-Wolff-Gruppe und der saarländischen Stahlindustrie zur nationalsozialistischen Autarkie- und Rüstungspolitik auf der badischen Baar, Konstanz/München 2016.