https://ns-ministerien-bw.de/wp-content/themes/nslmbw

Badische Ministerialbeamte und Angestellte in französischer Internierungshaft: Die Folgen der späten Räumung des Kultusministeriums in Straßburg am 22. und 23. November 1944

Spruchkammerakte – Prüfung der Wiederaufnahme des Falles Schmitthenners vom 03.12.1954 (GLA 465a B Sv Nr. 1629) | Klicken zum Vergrößern

In der Spruchkammerakte Paul Schmitthenners, dessen Nachkriegslebensweg an dieser Stelle schon mehrfach (Siehe Beitrag vom 28.06.2018, sowie Beitrag vom 28.05.2017) beleuchtet worden ist, findet sich als jüngstes Schriftstück eine am 3. Dezember 1954, dreieinhalb Jahre nach der Einstellung seines Verfahrens, angefertigte Aktennotiz aus der Hand eines pensionierten Ministerialrats, der die Frage geprüft hatte, ob das Spruchkammerverfahren gegen den ehemaligen badischen Minister und Rektor der Universität Heidelberg wiederaufgenommen werden könne. Nachdem er diese Frage mit Kurt Walter Held, Regierungsdirektor im baden-württembergischen Justizministerium, eingehend besprochen habe, sei er zu der Auffassung gelangt, dass „eine Kassation der rechtskräftigen Spruchkammerentscheidung nicht mehr möglich ist, nachdem die Spruchkammern ihre Tätigkeit beendet haben“.

Allerdings sei unlängst eine „bisher in ihrem Umfange nicht bekannte neue Belastung des Schmidthenner“ [sic!] öffentlich geworden, die man in jedem Fall vor dem Verwaltungsgericht vortragen solle, das von Schmitthenner unterdessen angerufen worden war, weil die Aufsichtsbehörden bei der Feststellung seiner Ruhegehaltsbezüge seine Beförderung vom Extraordinarius zum Ordinarius im Jahr 1937 wegen ihrer politischen Begleitumstände nicht anerkannt hatten. Als möglichen Zeugen für die neuen Belastungsmomente benannte die Aktennotiz den CDU-Abgeordneten Adolf Kühn, der als Vorsitzender des Gnadenausschusses des baden-württembergischen Landtags berichtet habe, „dass Schmidthenner wenige Tage vor dem Einmarsch der Franzosen allen Beamten und Angestellten des Kultministeriums in Straßburg die Anweisung gegeben hat, auf keinen Fall Straßburg zu verlassen. Etwa 200 Beamte und Angestellte dieses Ministeriums sind daraufhin den einrückenden Franzosen in die Hände gefallen und kamen in ein Lager. Hier waren die Verhältnisse so ungut, dass Dutzende von Häftlingen gestorben sind. Schmidthenner dagegen ist als einziger vor den Franzosen geflohen“.

CDU-Abgeordneter Adolf Kühn, Vorsitzender des Gnadenausschusses

Mit seinen – im Übrigen von seiner Ehefrau über seinen Tod hinaus fortgesetzten und letztlich erfolglosen – Bemühungen um Aufstockung seiner Pension, die ihm als politischer Rehabilitationsakt oder wenigstens als Instrument der Selbstvergewisserung zur Lebensaufgabe seines Alters geworden waren, hatte Schmitthenner also schlafende Hunde geweckt. Seine wehrpolitische Dauerrednertätigkeit im Dienste nationalsozialistischer Rüstungs- und Kriegspolitik, seine Karriere bei der SS, seine Beiträge zur kulturpolitischen Germanisierung des Elsass, seine Durchhalteparolen für die badische Lehrer- und Schülerschaft in den letzten Kriegstagen  und vieles mehr hatte die Spruchkammer geprüft und für zu leicht befunden, um sein spätes Verfahren noch zu Ende zu führen, und nun stand der Vorwurf im Raum, er habe in politischem Starrsinn – gepaart mit persönlicher Feigheit – die ihm unterstellten Beamten bei der Räumung Straßburgs im November 1944 den Franzosen ausgeliefert und damit vielfaches persönliches Leid über diejenigen gebracht, die seinem Schutz anvertraut waren. Wie nun war es um den Wahrheitsgehalt dieses Vorwurfs bestellt?

Als Mitte November 1944 französische und amerikanische Truppen auf Straßburg vorrückten, gerieten insbesondere die Angehörigen des Kultusministeriums, das vollständig von Karlsruhe nach Straßburg verlegt worden war, in eine prekäre Situation. Evakuierungsanordnungen des Chefs der Zivilverwaltung, des Gauleiters Robert Wagner, erfolgten erst am Vortag des feindlichen Einmarsches in die Stadt. Am Abend des 22. November ordnete Wagner den Rückzug der Familienangehörigen der Beamten und Angestellten der Dienststellen von Partei und Staat an, und erst am Vormittag des 23. November, als der Gefechtslärm vor der Stadt nicht mehr zu überhören war, erging die Anweisung an die Beamten und Angestellten selbst, den vorrückenden Truppen keinen Widerstand zu leisten und die Stadt zu verlassen.

Glaubt man den rückschauenden Aussagen Schmitthenners in seinen Lebenserinnerungen, so hat er die Evakuierung der Familienangehörigen der Beamten und Angestellten seines Ministeriums am 22. November auf eigene Faust in die Wege geleitet: Beim Rückzug nach Kehl sollten die Mitarbeiter ihren Frauen und Kindern behilflich sein und auch selbst dort bleiben, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Nur in dem Fall, dass Straßburg am 23. November nicht von den Franzosen und Amerikanern besetzt würde, sollten sie an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Im Straßburger Ministerialgebäude am Münster habe er, so Schmitthenner, lediglich eine Notbesetzung mit fünf höheren Beamten zurückgelassen. Dass nicht alle dieser fünf – und eine nicht genannte Zahl rangniederer Beamter und Angestellter – es dann am 23. November schafften, die Stadt rechtzeitig zu verlassen und in französische Gefangenschaft gerieten, erklärte Schmitthenner mit der späten Räumungsanordnung Wagners und mit einem „Verrat“ des Fahrers des Kultusministeriums. Dieser habe sich mit dem Dienstwagen, in dem die Verbliebenen hätten nach Kehl gebracht werden sollen, eigenmächtig abgesetzt. Eine Teilschuld schrieb Schmitthenner in seinen Lebenserinnerungen auch den Betroffenen selbst zu, denn nur „diejenigen, die sich vorher zu irgend einer Erledigung verleiten liessen und dadurch Zeit verloren, fielen dem Feind in die Hände“. Die Vielzahl der Schuldzuweisungen – an Wagner, den Fahrer und die Internierten – mag darauf hindeuten, dass Schmitthenner das schlechte Gewissen plagte, weil er tatsächlich zu spät reagiert hatte; als argumentum ex negativo hat dies allerdings nur begrenzte Aussagekraft.

Todesmitteilung Wilhelm Eisele vom 16.07.1945 (GLA 235 Nr. 1663) | Klicken zum Vergrößern

Etwas leichter als die Verantwortungsfrage ist die Zahl der in französische Internierungshaft geratenen Beamten und Angestellten zu klären. Aufschlüsse hierüber gibt ein Bericht Schmitthenners vom 4. Januar 1945 an den Reichsverteidigungskommissar, der Angaben über die „Räumung“ Straßburgs angefordert hatte. Schmitthenner nannte dort präzise Zahlen: Von den „Gefolgschaftsmitgliedern“ seiner Dienststelle hätten 100 (mit 52 Familienangehörigen) ins „Altreich“ zurückkehren können. 29 Beamte und Angestellte des Ministeriums seien dagegen seit dem 23. November 1944 vermisst. Nicht mit eingerechnet waren Angehörige, die ebenfalls vermisst wurden: etwa „die Mutter, die blinde Schwester und der 13jährige Bruder“ der Angestellten Ruth Schäfer oder die Ehefrau und zwei Kinder des Ministerialamtsgehilfen Georg Obergsell.

Auch zu Vermisstenfällen aus einigen dem Kultusministerium unterstellten Behörden machte Schmitthenner Angaben: Ein Mitarbeiter des Landesdenkmalamts Straßburg sei noch nicht ins „Altreich“ zurückgekehrt, ebenso vier Schulaufsichtsbeamte aus dem Elsass, „alle 4 Altelsässer und Parteigenossen“. Dagegen seien die „reichsdeutschen Direktoren der Höh. Schulen, der Lehrerbildungsanstalten, der Gewerbe- und Handelsschulen“ nach seinen Feststellungen „fast vollständig ins Altreich“ zurückgekehrt; lediglich von zweien lägen noch keine Mitteilungen vor. Über das Gros der reichsdeutschen Lehrkräfte an den elsässischen Schulen konnte Schmitthenner keine Angaben machen. Die Erhebungen seien noch nicht beendet, da ein Teil von ihnen zu Heimatdienststellen außerhalb Badens zurückgekehrt sei. Für die Lehrerschaft kündigte Schmitthenner einen weiteren Bericht an, der jedoch nicht überliefert ist. Dass die von Adolf Kühn 1954 genannte Zahl von 200 Personen zutrifft, ist also zweifelhaft. 200 internierte Beamte und Angestellte des Kultusministeriums können es jedenfalls nicht gewesen sein, da der Personalbestand des Hauses gar nicht so groß war. Möglicherweise war die Gruppe der in Internierungshaft Geratenen aber deutlich größer als die von Schmitthenner genannten 29, wenn man etwa die Lehrer und andere Personen hinzuzählt, die den Kultusminister als obersten Dienstherrn hatten.

Auch Kühns Aussage, dass in der Internierungshaft Dutzende von Häftlingen wegen „unguter“ Verhältnisse gestorben seien, lässt sich nicht verifizieren, da über die Schicksale der in Straßburg zurückgebliebenen Beamten und Angestellten auf der Grundlage der vom Verfasser dieser Zeilen eingesehenen Akten nur in Einzelfällen Aussagen möglich sind. Für zwei Beamte ist der Tod in Internierungshaft belegt: Ministerialoberrechnungsrat Heinrich Landes starb am „13.5.45 in einem Internierungslager in Frankreich“, und Regierungsrat Wilhelm Eisele starb am 14. Juli 1945 an einer Magen-Darm-Erkrankung in einem Internierungslager in der Nähe von Toulouse. Der zunächst vermisste Ministerialamtsgehilfe Obergsell kehrte mit Frau und Tochter nach Karlsruhe zurück, starb dort aber, offenkundig völlig verarmt, im November 1948, „auf einem Strohsack“.

Akte zur Anweisung der Versorgungsbezüge nach dem Ableben des Ministerialoberrechnungsrats Heinrich Landes vom 14.10.1946 (GLA 235 Nr. 1649) | Klicken für gesamte Ansicht

Auch andere Rückkehrer waren gesundheitlich schwer geschädigt: Albert Geisel etwa, der erst im Oktober 1944 als Regierungsdirektor in den Dienst der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung beim Chef der Zivilverwaltung getreten war, berichtete, dass nach seiner Rückkehr aus anderthalbjähriger Internierung seine „Körperkräfte“ so „verfallen“ waren, „daß es mir ohne fremde Hilfe nicht möglich war, in einen Personenzug zu steigen oder in die Straßenbahn einzusteigen. Seit Monaten betrug mein Gewicht noch 104 Pfund bei 1,72 m Größe“. Die Klage hierüber trug er der Nachfolgebehörde des Kultusministeriums vor, die ihn indes aus politischen Gründen nicht wieder in den Dienst nehmen wollte, denn Geisel, ursprünglich Heidelberger Volksschullehrer, war ein Altparteigenosse der NSDAP und ehemaliger Gaugeschäftsführer des nationalsozialistischen Lehrerbundes.

Bei den meisten Inhaftierten ist nur die Haftdauer bekannt, aber nichts über die weiteren Umstände, so zum Beispiel beim Angestellten Guido Fiedler, der im Mai 1946 nach Karlsruhe zurückkehrte. In einigen Fällen sind zumindest die Haftorte bekannt. So listete Oberregierungsrat Karl Klepper, als er, ebenfalls im Mai 1946, um seine Wiederwendung nachsuchte, sämtliche Haftorte auf: „Gefängnis Raspelhaus Straßburg, Erwin von Steinbach-Schule, Fort Bismarck Wolfisheim, Struthof-Schirmeck, Fort Barraux, Zitadelle Clermont s/Oise, Camp Pithiviers“. Inwieweit Klepper und die übrigen internierten Angehörigen des Kultusministeriums dessen damaligen Leiter für ihr Schicksal verantwortlich machten, geht aus den spärlich überlieferten Akten nicht hervor. Anlass zum Groll auf Schmitthenner dürften sie durchaus gehabt haben, auch wenn die Folgen seines Fehlverhaltens vielleicht nicht so groß waren, wie es die Aussage Kühns aus dem Jahr 1954 andeutet. Dass seine Einschätzung eher auf Gerüchten als auf Recherchen gefußt haben mag, legen die von ihm genannten – und offenkundig deutlich überhöhten – Zahlen der Internierten und in Internierungshaft Gestorbenen nahe.

Quellen:

Generallandesarchiv Karlsruhe 235-1 Nr. 10170, 235 Nr. 40693, Landeskirchliches Archiv Karlsruhe 150/028 (Lebenserinnerungen Paul Schmitthenners)

Quelle-235-1-10170

Hinterlassen Sie einen Kommentar