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„Das Ministerium ist gar nicht so leicht zu fassen“ – Interview mit Dr. Ulrike Schulz und Dr. Martin Münzel, Teil 1

schulzmuenzel_blogIm Rahmen des Workshops „Bausteine einer Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus im Reich und in den Ländern“, der am 16. April 2015 in Heidelberg stattfand, führte Projektmitarbeiter Moritz Hoffmann ein Interview mit Dr. Ulrike Schulz und Dr. Martin Münzel. Als Wissenschaftliche MitarbeiterInnen der „Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus“ stellten Sie ihr Forschungsvorhaben sowie erste Zwischenergebnisse vor, gaben Einblick in ihr methodisches Konzept und diskutierten mögliche Berührungspunkte zur NS-Geschichte der Landesministerien.

Moritz Hoffmann: Können Sie uns knapp skizzieren, worum es im Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums genau geht? Welche Dimensionen hat die Erforschung der Geschichte dieser Organisation?

Dr. Ulrike Schulz: Das Reichsarbeitsministerium war eine der obersten Reichsbehörden, und wir haben als Unabhängige Historikerkommission den Auftrag, dieses Ministerium zu erforschen – vor allem, aber nicht nur, seine NS-Geschichte. Wir fangen dabei mit der Gründung des Ministeriums 1919 an, hören aber auch 1945 nicht auf, sondern werden die personellen Kontinuitäten bis 1960 bearbeiten.
Das Ministerium ist gar nicht so leicht zu fassen, im Grunde genommen beschreibt „Reichsarbeitsministerium“ auch nur die halbe Wahrheit, es umfasste auch damals schon die zwei großen Blöcke Arbeit und Soziales, es gibt also sehr große und höchst ausdifferenzierte Arbeitsgebiete, die dort bearbeitet wurden, und eine Mehrheit davon erst seit 1919 als staatliche Hoheitsaufgabe. Das macht es für uns nicht ganz einfach: Für die NS-Aufarbeitung der Ministeriumsgeschichte besonders im Fokus stehen natürlich die Arbeitsverwaltung und alles, was damit zusammenhängt, aber auch die besetzten Gebiete, die Expansion, die Fremd- und Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter im Reich und anderswo. Wie das Ministerium also in Gewaltverbrechen verstrickt ist, ist sicherlich einer der Punkte, die zu erforschen die Öffentlichkeit ebenso von uns erwartet wie die Verstrickung von Beamten und Mitarbeitern in den Nationalsozialismus. Das tun wir, aber um sich darüber klar zu werden was für eine Prägung das Ministerium hat, muss man sich die einzelnen Arbeitsbereiche anschauen, und da wird es sehr divers. So übernimmt das Reichsarbeitsministerium den alten und tradierten Strang der Sozialversicherung mit allen Paketen, also der Unfall-, Renten-, Invaliden- und Krankenversicherung, zudem die Frage der staatlichen Fürsorge, die auf Reichsebene vor allem die Kriegsopfer nach 1918 betrifft. Zudem übernimmt das Reichsarbeitsministerium Teile des Gesundheitswesens, vor allem der Kassenverwaltung, ein sehr großer Bereich ist ebenfalls das Wohnungs- und Siedlungswesen, was dort auch erstmals auf Reichsebene bearbeitet wird und nach 1918 ein großes Problem darstellt, das auch über den gesamten Forschungszeitraum bestehen bleibt. Nicht zuletzt kommt in der Arbeitsverwaltung auch die Arbeitslosenversicherung hinzu, die in der Weimarer Republik erst entsteht und vom Reichsarbeitsministerium federführend organisiert und gesetzgeberisch vorbereitet. Hierzu gehört auch die Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung und als besonders wichtiger Bereich die Arbeitsmarktpolitik. Das ist nicht so knapp zu skizzieren, weil, so glaube ich, wenig bekannt ist, dass es im Grunde ein „Superministerium“ ist hinter dessen Namen sich so viel verbirgt. Es wäre aber auch nicht richtig, sich nur auf diesen Arbeitsbereich des Ministeriums zu konzentrieren, weil viele andere Bereiche nicht minder entscheidend und großflächig sind.

Dr. Martin Münzel | © Noel Tovia Matoff

Dr. Martin Münzel: Ergänzend wäre noch zu sagen, dass wir als Querschnittsthema die personellen Strukturen im Ministerium sehr genau untersuchen, und zwar von 1919 bis in die Bundesrepublik hinein, und das in einer Intensität und Dimension, in der es bislang noch für kein Ministerium gemacht worden ist. Das ist zumindest die Grundlage für alle unsere Teilprojekte. Geleitet wird das Forschungsvorhaben von einer international besetzten Historikerkommission, der sechs Professorinnen und Professoren mit dem Sprecher Prof. Alexander Nützenadel von der Humboldt-Universität zu Berlin angehören. Hinzu kommen mit Ulrike Schulz und mir zwei wissenschaftliche Mitarbeiter sowie vier Doktorandinnen und Doktoranden, die einzelne Themen vertiefen und dazu in enger Gruppenabstimmung ihre Dissertation schreiben. Veröffentlicht werden diese Erkenntnisse dann in einer Publikationsreihe, die Anfang 2017 mit einem Syntheseband eröffnet wird, hinzu kommen begleitende Vorträge, kleinere Veranstaltungen und drei große Tagungen: Die erste zu „Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Sozialpolitik bis 1945“ fand im Dezember 2014 statt, am Ende dieses Jahres befasst sich eine weitere Tagung mit der Arbeitspolitik in den besetzten Gebieten, im März 2016 werden wir eine Konferenz zur internationalen Sozialpolitik während der 1930er und 1940er Jahre durchführen, die sich insbesondere mit den von Deutschland ausgehenden Ideen und ihrer Rezeption im Ausland befassen soll.

Moritz Hoffmann: Große Forschungsprojekte werden ja oft durch öffentliche Debatten angestoßen, wie dies zum Beispiel bei der Familie Quandt der Fall war – woher kam der Impuls in diesem Fall, und wie und von wem wird das Vorhaben finanziert?

Dr. Ulrike Schulz: Es hat seit der Bearbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes  so etwas wie eine Dominoreaktion gegeben, die noch einmal angefacht wurde durch eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke, die bei den Ministerien anfragte, warum sie sich bisher nicht mit ihrer NS-Geschichte befassen. Dies war sicher ebenso ein Anstoß wie der Ministeriumsumlauf und die Erfahrungen mit dem Projekt zum Auswärtigen Amt, und aus diesem Grund hat sich dann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, damals noch unter Frau Dr. Ursula von der Leyen, dazu entschieden, eine Historikerkommission einzuberufen und eine Vorstudie erstellen zu lassen, um den Umfang eines solchen Projektes abschätzen zu können. Dies geschah zwischen 2012 und 2013, im April 2013 wurde die Kommission offiziell berufen und arbeitet seit Januar 2014 am Projekt.

Dr. Martin Münzel: Die Finanzierung erfolgt alleine durch das Bundesministerium. Von wem tatsächlich letztlich die Initiative ausging wissen wir nicht, ausdrücklich zu betonen ist in jedem Fall, ist dass wir uns als unabhängige Historikerkommission verstehen und das auch sind. Wir würden selbstverständlich keinerlei Einflussnahme auf die inhaltliche Gestaltung oder Quellenzugänge hinnehmen, von Seiten des Ministeriums ist eine solche bisher aber auch nicht ausgeübt worden. Es ist allerdings auch so, dass das Ministerium die für uns relevanten Quellen größtenteils nicht im Hause hat, diese lagen auch zuvor recht unangetastet im Bundesarchiv. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Bestände zu durchforsten, wobei es, was die Vollständigkeit angeht, eine Einschränkung im Bereich der für die Nachkriegszeit relevanten Personalakten gibt, deren Verbleib zum Teil noch unklar ist.

Moritz Hoffmann: Sie sprachen gerade die vielen Dimensionen des Reichsarbeitsministeriums an. Gibt es in diesem großen Bereich schon Erkenntnisse bezüglich der Geschichte der Landesministerien, sehen Sie dort Anknüpfungspunkte?

Dr. Ulrike Schulz | © Noel Tovia Matoff

Dr. Ulrike Schulz: Diese Verbindungen sehen wir ganz deutlich. Streckenweise ist der Bezug in die Landesebene auch lokal institutionalisiert, so natürlich bei den Versicherungsämtern, der Fürsorge, den Krankenkassen, dem Wohnungswesen und vielen Organisationen, die damit verknüpft sind. Das betrachten wir ganz genau und unsere Teilprojekte sind mitunter auch darauf angewiesen, die Landesebene mit zu erforschen. Das Wohnungswesen, das ich mit bearbeite, ist etwa Ländersache, das heißt das Reichsarbeitsministerium fungiert hier als Rahmengesetzgeber, wodurch für uns sehr wichtig ist, zu untersuchen, was die Länder in diesem Rahmen tun und ob die Durchsetzungsfähigkeit der Reichsbehörde gewährleistet ist. Dieses Prinzip kann man dann auf fast alle Arbeitsbereiche anwenden, weil beispielsweise auch die Versicherungsämter der Länder verwaltungstechnisch eine große Eigenständigkeit haben und diese an ihre regionalen und lokalen Verhältnisse anpassen. Deshalb interessiert uns das Zentrum-Peripherie-Problem im Sinne von Machtstrukturen, Kommunikationskanälen und routinierten Organisationsabläufen, die ja das „A und O“ der Zusammenarbeit sind. Dabei gilt aber immer einschränkend, dass die Arbeitsbereiche sehr unterschiedlich sind, die Sozialversicherung ist natürlich ganz anders als etwa das Wohnungswesen. Aber um es kurz zusammenzufassen: Wir haben die Länderverwaltung immer im Blick, sie spielt für die einzelnen Handlungsfelder eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Moritz Hoffmann: Sie, Frau Schulz, bearbeiten im Forschungsprojekt die „Anatomie der Behörde“, Dr. Münzel übernimmt die personellen Strukturen. In welchen Punkten unterscheiden sich diese Ansätze, wie kann man das ausdifferenzieren?

Dr. Martin Münzel: Das ist insofern eine gute Frage, als wir sie uns auch laufend stellen und uns genau überlegen müssen, wie und wo wir an diesem Punkt zusammenarbeiten. Natürlich kann man ohne die Personen keine Geschichte der Struktur und Entwicklung des Ministeriums schreiben, gleichwohl können wir auch nicht nur die Personen betrachten ohne zu wissen, welche Funktion und Position sie im Rahmen der Organisation der Behörde hatten. Wir arbeiten vor allem für den zeitlichen Bereich von 1919 bis 1945 eng zusammen und verwenden eine Personendatenbank, für deren Aufbau ich verantwortlich bin. Zur Frage der Auswertung und Interpretation vor dem Hintergrund der Ministeriumsentwicklung entwickeln wir gemeinsam Konzepte. Für die Zeit nach 1945 bearbeite ich darüber hinaus die Geschichte der Nachkriegsbehörden weniger mit dem Anspruch einer umfassenden Behördengeschichte, sondern mit konzentriertem Blick auf das Personal bis 1960.

Dr. Ulrike Schulz: Aus genau diesem Grund sind wir auch zu zweit hier – auf den ersten Blick wirkt diese Aufteilung nicht ganz einfach, auf den zweiten macht sie aber sehr viel Sinn, denn in dieser Intensität könnte ich die Personalebene niemals alleine untersuchen – wir profitieren also beide jeweils von den Aufgaben und Erkenntnissen beider Teilbereiche. In einer solchen Behörde geht es ja auch nicht nur um die Personen, weil Personen zwar die Behörde gestalten, es dort aber auch noch eine sehr eigene Dynamik zu beachten gilt, die nicht über Struktur- und Geschäftsverteilungspläne abbildbar ist. Was ist das für eine Organisation, wie funktioniert sie als Arbeit- wie auch Gesetzgeber, wie als Verwaltungsauftraggeber, als Regierungsorganisation? Daraus begründet sich das Schreiben einer Behördengeschichte, denn die Tatsache, dass die Ausgestaltung der Organisation so groß und vielfältig ist ermöglicht erst durch die Aufteilung die Intensität der Erforschung, die wir jetzt leisten. Alleine wäre dies für keinen von uns erreichbar.

 

Zum zweiten Teil des Interviews.

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