„Das war mein großer Leidensweg“: Warum der Arbeiter Friedrich Müller für eine „Schutzhaftstrafe“ im Jahr 1933 nicht entschädigt wurde
Zu den wiederkehrenden Erfahrungen der Archivarbeit gehört es, bei der Aktenaushebung Nieten zu ziehen. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts hat sich die Gefahr solcher Fehlgriffe bei den biographischen Recherchen als recht groß erwiesen, etwa wenn Personal-, Versorgungs-, Spruchkammer- oder Wiedergutmachungsakten von Ministerialbeamten gesichtet werden, die Allerweltsnamen trugen. So erhielt der Verfasser dieser Zeilen, auf der Suche nach Informationen über einen Beamten aus dem badischen Kultusministerium namens Friedrich Müller, unlängst die Wiedergutmachungsakte eines gleichnamigen Mannheimer Arbeiters. In Missachtung des Gebots, immer effizient zu forschen, wurde die Akte nicht prompt zum Reponieren gegeben, sondern gelesen – und dies mit einigem Gewinn, weil sich in der schmalen Akte einige der zentralen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in der mikroskopischen Perspektive einer Einzelbiographie widerspiegeln. Die Lektürefrüchte seien an dieser Stelle, auch wenn sie nicht im Geringsten zur Erhellung der Geschichte der Landesministerialbürokratie im Nationalsozialismus beitragen, deshalb kurz vorgestellt.
Im Januar 1949 stellte der damals 47-jährige Friedrich Müller bei der Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung Karlsruhe einen Antrag auf Wiedergutmachung der Schäden, die er im Frühjahr 1933 durch politische Verfolgung erlitten hatte. Als Grund der Verfolgung nannte Müller seine Mitgliedschaft in der SPD und seine Funktion als „Bannerträger“ beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der 1924 von den Parteien der Weimarer Koalition gegründeten Republikschutzorganisation. Als uniformierter Reichsbannermann sei er den Nationalsozialisten in Ludwigshafen, wo er damals wohnte, als politischer Gegner bekannt gewesen und bald nach der Machtübernahme in „Schutzhaft“ genommen worden. Über die genaue Dauer seiner Haft konnte Müller keine Angaben mehr machen: Er sei irgendwann Anfang März 1933 verhaftet und nach etwa acht Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt worden; dies bestätigte ihm ein bereits damals im Dienst gewesener Ludwigshafener Polizeiinspektor, der jedoch auch keine Daten nennen konnte, da die Verwahrungsbücher des Reviers bei einem Bombenangriff vernichtet worden waren. Dieser konnte sich aber noch erinnern, dass die Einlieferung Müllers durch SS-Männer „jedenfalls politischer Art“ gewesen sei. Als Vermögensschäden machte Müller in seinem Antrag einen Verdienstausfall – er war damals als Mehlträger bei einem Fuhrunternehmen beschäftigt gewesen – in Höhe von 800 Reichsmark sowie den Verlust seiner Reichsbanneruniform mit einem Wert von 320 Reichsmark geltend.
Die Mühlen der Wiedergutmachungsbürokratie scheinen in Müllers Fall sehr langsam gemahlen zu haben, denn in der Akte findet sich als Folgedokument ein anderthalb Jahre nach dem Antrag eingegangenes Verzeichnis seiner Vorstrafen, das die Landesbezirksstelle bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankenthal angefordert hatte. Dieses Verzeichnis umfasst 14 Einträge: Der älteste verweist auf eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten aus dem Jahr 1919 wegen schweren Diebstahls, der jüngste auf eine dreieinhalbmonatige Gefängnisstrafe aus dem Jahr 1949 – also nach Eingang des Wiedergutmachungsantrags. Die Verurteilung war in diesem Fall erfolgt wegen „fortgesetzten Vergehens der Blutschande“, so die bis in die frühen 1970er Jahre hinein im Strafrecht gebräuchliche Bezeichnung für den „Beischlaf zwischen Verwandten“ (§ 173 StGB). Die übrigen in Müllers Vorstrafenregister erfassten Delikte hatten geringere Strafen nach sich gezogen: zwischen 1923 und 1930 Unfug, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Amtsanmaßung, Beamtenbeleidigung, Körperverletzung und üble Nachrede, in den Jahren 1935 und 1936 Körperverletzung, Unfug und Betrug.
Etwa zeitgleich mit dem Eingang des Vorstrafenregisters erreichte die Landesbezirksstelle im August 1951 ein Erinnerungsschreiben Müllers, in dem er die „Schutzhaftstrafe“ aus dem Jahr 1933, die im Übrigen den Verlust seines Arbeitsplatzes nach sich gezogen hatte, in eine Reihe mit weiteren Schicksalsschlägen stellte: „1943 bin ich total ausgebombt. 1944 bin ich zu Militär eingezogen worden und 1947 aus Gefangenschaft zurückgekehrt. Das ist ein großer Leidensweg“. Er sei arbeitslos, seit einem halben Jahr geschieden, lebe mit seinen zwei Kindern in elenden Verhältnissen und könne nicht verstehen, warum man einen „armen Teufel“ wie ihn „darben“ lasse, während andere Anträge längst erledigt seien. „Die Flüchtlinge bekommen Geld und alles und haben Arbeit nur uns zieht man den Hals zu“.
Der Bitte um Erledigung seiner Angelegenheit kam die Landesbezirksstelle nun rasch nach, allerdings mit einem anderen Ergebnis als dem von Müller erwarteten, denn sein Antrag auf Haftentschädigung wurde abgelehnt. Mit Schreiben vom 19. September 1951 wurde Müller mitgeteilt, dass die Bestimmungen des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom 16. August 1949 in seinem Fall keine Anwendung finden könnten, da eine Verfolgung „wegen politischer Überzeugung“ nicht vorliege. Nach „ständiger Rechtsprechung der Wiedergutmachungsgerichte“ werde darunter nämlich eine „auf sittlicher Grundlage beruhende und während einer gewissen Zeitdauer bewährte Grundeinstellung in den Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Einzelpersönlichkeit verstanden“. Eine solche vermochte man bei Müller nicht zu erkennen, dem stattdessen sein langes Strafregister vorgehalten wurde. Es sei „bekannt“, so ein historischer Exkurs in dem Ablehnungsschreiben, „dass Personen, die sich schon oft als gemeinschaftsfeindlich und ordnungswidrig gezeigt hatten, in Schutzhaft genommen worden sind, ohne dass ihre politische Überzeugung dabei eine Rolle oder wenigstens nicht die Hauptrolle gespielt hat“. Es sei nicht von der Hand zu weisen, „dass Sie vor allem wegen ihres Verhaltens auf unpolitischem Gebiete in Haft gewesen sind. Solange diese Möglichkeit besteht, kann Ihrem Antrage auf Haftentschädigung nicht entsprochen werden“.
Der Argumentation der Landesbezirksstelle Plausibilität zu unterlegen, fällt schwer: So lässt die Schlusspassage des Schreibens offen, ob auf der Hand liege oder nur die Möglichkeit bestehe, dass Müller nicht aus politischen Gründen inhaftiert worden war. Merkwürdig mutet auch an, dass die Prüfung der „politischen Überzeugung“ lediglich anhand des Strafregisters erfolgte, und geradezu widersinnig erscheint das Argument, dass aus den „beigezogenen Strafakten“ nicht hervorgehe, dass Müller „den Gerichten jemals als Träger einer gefestigten politischen Überzeugung bekannt“ war. Hier drängt sich die Frage auf, wegen welcher Vergehen mit politischen Implikationen Müller denn vor 1933 überhaupt hätte straffällig werden können, oder ob ihm indirekt vorgehalten wurde, dass er nach seiner „Schutzhaft“ nicht erneut in die Fänge der NS-Justiz geraten war. Auch deckt sich die Bewertung der „Schutzhaftaktionen“ des Jahres 1933, die für die Landesbezirksstelle offenkundig teilweise bloße ordnungspolizeiliche Maßnahmen waren, um „Gewohnheitsverbrecher“ kurzzeitig von der Straße zu bringen, nicht mit dem aktuellen Forschungsstand zu dieser Problematik.
Schließlich war auch fraglich, ob Müller denn überhaupt als „Gewohnheitsverbrecher“ – dieser von den Nationalsozialisten im Strafrecht verankerte Begriff tauchte in dem Ablehnungsbescheid zwar nicht auf, schwang aber doch wohl mit, wenn von fortgesetztem „gemeinschaftsfeindlichen“ Verhalten die Rede war – gelten konnte. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die von der Landesbezirksstelle zwischenzeitlich um eine Einschätzung von Müllers Vorstrafen gebeten worden war, hatte der Ansicht zugeneigt, „dass man dem Antragsteller seinen Anspruch auf Haftentschädigung trotz der Vorstrafen zuerkennen kann, da diese Vorstrafen mit Ausnahme eines Diebstahls im Jahr 1919 und eines Betruges im Jahr 1936 zwar für eine gewalttätige Veranlagung, nicht aber für eine ausgesprochene Kriminalität des Antragstellers sprechen“. Wollte man zu einer noch milderen Bewertung seines Strafregisters kommen, so ließe sich hervorheben, dass Müller vom Jahresende 1930, als er wegen übler Nachrede eine dreiwöchige Haftstrafe verbüßte, bis zum Zeitpunkt seiner Schutzhaft gar nicht mehr straffällig geworden war – also in jenem Zeitraum, in den auch sein Anschluss an die Sozialdemokratie und seine Tätigkeit im Reichsbanner fielen, die offensichtlich eine günstige Wirkung auf sein zuvor problematisches Sozialverhalten gehabt hatten.
Der Zurückweisung von Müllers Anspruch auf Haftentschädigung vom September 1951 folgte vier Monate später der Bescheid, dass auch die geltend gemachten Ansprüche wegen Schadens im wirtschaftlichen Fortkommen (der Verdienstausfall während der Schutzhaft) und Schadens an Eigentum und Vermögen (die beschlagnahmte Reichsbanneruniform) abgelehnt werden. Gegen diesen Bescheid erhob Müller Anfang März 1952 Klage. „Da mir die Nazi meine Schuhe und Uniform gestohlen haben und bin noch total ausgebombt und zwei Jahre in Gefangenschaft gewesen, muß mein Fall ganz groß in alle Zeitungen. Ich werde einen grossen Zeugenapparat aufstellen“, hieß es in seinem Schreiben, das die Nachreichung einer Klageschrift ankündigte. Diese legte der öffentliche Anwalt für die Wiedergutmachung beim Amtsgericht in Mannheim, der sich unterdessen des Falles angenommen hatte, sechs Wochen später vor. Zur Verhandlung kam die Klage am 23. Februar 1953 vor der Entschädigungskammer beim Landgericht Karlsruhe, die Müller eine erneute Enttäuschung bereitete: Sie wies die Klage als unzulässig zurück, da sie vier Tage nach Fristablauf erhoben worden sei. In der Begründung des Beschlusses erörterte die Entschädigungskammer folglich auch nur auf breitem Raum, wie lange die Post wohl gebraucht haben dürfte, den angefochtenen Bescheid von Karlsruhe nach Mannheim zu transportieren, und verzichtete auf eine Prüfung der materiell-rechtlichen Fragen des Falles – allerdings nicht ohne „nebenbei“ zu bemerken, dass sie im Falle Müllers nicht von einer „achtbaren politischen Überzeugung“ ausgehe, weil „aufgrund seiner 13 Vorstrafen … anzunehmen ist, daß er zur staatlichen Ordnung und zum Leben in der Gemeinschaft wenigstens damals nicht die richtige Einstellung aufbrachte“.
Ob dieser Beschluss dazu beitrug, dass Müller zur staatlichen Ordnung und zum Leben in der Gemeinschaft der frühen Bundesrepublik die richtige Einstellung entwickeln konnte, sei dahingestellt. Die Entschädigungssache scheint ihn jedenfalls noch über Jahre hinweg beschäftigt zu haben. Das letzte Dokument in der Karlsruher Wiedergutmachungsakte ist ein längeres Schreiben Müllers vom 3. Mai 1961, in dem er sich nochmals über seine mehrwöchige „Schutzhaft“ im März und April 1933 äußert, dieses Mal auch mit einigen Ausführungen über seine Haftbedingungen inklusive körperlicher Misshandlungen und über seine Haftentlassung wenige Tage vor der Niederkunft seiner Frau. Die Wiederaufnahme seines Falles versuchte Müller 1961 nicht in Karlsruhe, sondern beim Bezirksamt für Wiedergutmachung in Neustadt an der Weinstraße, wo die Zuständigkeit für den früheren Schutzhaftort Ludwigshafen lag. Ob der Fall mit einem zeitlichen Abstand von etwa zehn Jahren und in Rheinland-Pfalz anders beurteilt wurde als beim Erstentscheid in Baden-Württemberg, kann der Verfasser dieser Zeilen nicht berichten, da ihn das Effizienzgebot bislang davon abgehalten hat, der zweiten Wiedergutmachungsakte im Fall Friedrich Müller nachzuspüren.
Quelle: GLA 480 4577