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„dass aber das Leben der Gendarmeriebeamten wertvoller ist als der zweifelhafte Erfolg einer Geheimhaltung“: Zielkonflikte bei der Durchführung des Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, in: RGBl, 25. Juli 1933, Nr. 86 | Klicken zum Vergrößern

An den nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltmaßnahmen waren die badischen und württembergischen Landesministerien in vielerlei Hinsicht beteiligt – in besonders starkem Maße auf dem Feld der „Gesundheitspolitik“. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass unmittelbar nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ von der kollektiven Schuldverdrängung – alles Unheil sei aus Berlin gekommen, und in Karlsruhe und Stuttgart habe man bloß Anordnungen ausgeführt – gerade die beiden Leiter der Gesundheitsabteilungen im badischen (Ludwig Sprauer) und im württembergischen Innenministerium (Eugen Stähle) ausgenommen und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Die gegen sie erhobenen Anklagen bezogen sich auf ihre Mitwirkung an den als „Euthanasie“ bemäntelten Krankenmorden der Kriegsjahre, mit denen die Beteiligung der Landesministerien an den „gesundheitspolitischen“ Unrechts- und Gewaltmaßnahmen indes nicht erst begann.

Ihren Ausgangspunkt hatten diese vielmehr in dem Reichsgesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zum 1. Januar 1934 in Kraft trat und den Landesverwaltungen – neben den Innen- auch den Justizministerien – bei der Administration der nun in großer Zahl einsetzenden Zwangssterilisationen eine Reihe neuer Aufgaben brachte. Neben der Instruktion der Gesundheitsämter und der Bezirksärzte, die die „Erbkrankheiten“ im Sinne des neuen Gesetzes festzustellen hatten, und der Einrichtung der Erbgesundheitsgerichte, denen die Entscheidung über die Sterilisationen oblag, gehörten auch die Anordnungen an die Polizei, die für die Zwangszuführung zu sterilisierender Personen in die Krankenhäuser zuständig war, zu den Aufgaben der Landesverwaltung. Dass in diesem Bereich Regelungsbedarf bestand und sich die Landesinnenministerien mit Anordnungen, auch weil sie in ihre Alleinentscheidungskompetenz fielen, nicht immer leicht taten, sei anhand eines Falles illustriert, der das badische Innenministerium im Jahr 1936 beschäftigte.

Entscheidungsbedarf entstand in diesem Fall durch eine Anfrage des Bezirksamtes Tauberbischofsheim, das dem Innenminister den Bericht des örtlichen Gendarmeriekommissars Ludwig weiterleitete, der die bisherige Praxis, zum „Zweck der schonenden Geheimhaltung“ zwangsweise Einlieferungen von „Erbkranken“ durch Polizeibeamte in Zivilkleidung vornehmen zu lassen, in Frage stellte. Anlass hierzu gab Ludwig eine am 13. Juli 1936 aus dem Ruder gelaufene Einlieferung, über die ein dem Schreiben anhängender Bericht der beteiligten Polizisten Auskunft gab: Im Auftrag des Bezirksamtes hatten diese den Landwirt Ludwig O. aus K. dem Gesundheitsamt Wertheim „zwecks Sterilisierung“ zwangsweise zuführen sollen. Da O. als „grober, gewalttätiger Mensch“ bekannt gewesen sei, habe man den Auftrag zu dritt – Oberwachtmeister Lutz und die Hauptwachtmeister Steck und Hößle – ausgeführt. Während Hößle, der als einziger der drei Uniform getragen habe, in einiger Entfernung zum Anwesen des O. beim Polizeikraftwagen verblieben sei, hätten Lutz und Steck die Scheune des O. betreten. Noch ehe sie ihm „den Zweck unseres Erscheinens bekanntgeben konnten, nahm derselbe einen Bengel und setzte sich mit diesem zu Wehr“. Den beiden Polizisten gelang es nicht, O. zu überwältigen, zumal diesem sein taubstummer Bruder Philipp mit einer Heugabel zur Hilfe kam. Eine Wendung nahm das Handgemenge, als der unterdessen alarmierte dritte Polizist, uniformiert und bewaffnet, in der Scheune erschien: Als „er die Situation erkannte, hat er schnell seine Dienstpistole gezogen und auf Ludwig O. angelegt. Dabei hat er gerufen: ‚Hände hoch.‘ Ludwig O. hat sich dann nicht mehr zur Wehr gesetzt“. Sein Bruder Philipp habe aber weiter Widerstand geleistet und den hinzugeeilten Hauptwachtmeister Hößle attackiert, der sich ebenfalls mit einer Heugabel zur Wehr gesetzt und diesen damit so lange geschlagen habe, „bis er die Gabel fallen liess. Hiernach griff der Taubstumme nach einer Sense; sein Bruder, Ludwig O., hat dann jedenfalls eingesehen, dass jede weitere Gegenwehr zwecklos ist und hat seinem Bruder zu verstehen gegeben, dass er den Kampf einstellen soll“.

Erntedankfest in Sigmaringen 1934: Bauern mit Sense und Mistgabeln (aus: StA Sigmaringen N 1/68 Nr. 499) | Klicken zum Vergrößern

Ein Nachspiel hatte die Einlieferungsmaßnahme noch, als Ludwig O. „in mörderischer Weise längere Zeit in seinem Hof geschrien“ habe „und zwar deshalb, dass ihm die Einwohnerschaft von K. zur Hilfe kommen soll. Als er sah, dass alles keinen Zweck hatte, erklärte er sich bereit mitzugehen. Auf der Strasse hat derselbe dann nochmals angefangen zu schreien. Als er dann sah, dass die Einwohnerschaft sich zurückhielt und nur unter ihren Türen und Fenstern sich blicken liess, konnte O. beruhigt werden; er ging dann in unserer Begleitung nach dem Kraftwagen und O. konnte dann auftragsgemäss dem Gesundheitsamt Wertheim d. h. in das dortige Krankenhaus eingeliefert werden“. Zurück blieb sein Bruder, der „durch die von uns berechtigte Notwehr zwei oder drei Kopfwunden davongetragen“ hatte. „Seine Schwägerin, die Ehefrau des Ludwig O., wurde beauftragt, einen Arzt zur Behandlung des Philipp O. zu rufen“.

Welche Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen seien, legte das von Oberwachtmeister Lutz aufgesetzte Protokoll unmissverständlich nahe: Sowohl er selbst als auch seine beiden Kollegen schilderten dort das Erscheinen des Uniformträgers als Wendepunkt der Zwangsmaßnahme, die für die Polizisten lebensbedrohliche Ausmaße angenommen habe. Auch dem anschließend vernommenen Ludwig O. legte der Protokollant die Quintessenz des Vorfalls in den Mund: „Ich habe meine Verteidigung nur eingestellt, als ich sah, dass ein uniformierter Gend.Beamter in den Hof kam und mit seiner Pistole auf mich anlegte“, so O., der zudem verneinte, „dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte mich eben mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Da ich jetzt schon so alt bin, kann ich nicht verstehen, dass man mich zur Unfruchtbarmachung wegbringt“. Lutz kam darüber hinaus zu einem interessanten Urteil über O.: „Wenn derselbe auch geistig etwas beschränkt ist, dann kann doch gesagt werden, dass derselbe für seine Tat voll verantwortlich gemacht werden kann. Er macht den Eindruck eines gerissenen und verschlagenen Menschen“.

Mochte diese Wahrnehmung die Frage aufwerfen, wie ein wegen „angeborenen Schwachsinns“ Stigmatisierter – so offenkundig die Zuschreibung auf der Grundlage des Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – für seine Tat voll verantwortlich sein konnte, so interessierten die vorgesetzten Behörden lediglich die polizeiadministrativen Weiterungen des Falles. Der zuständige Gendarmeriekommissar jedenfalls erblickte in ihm ein starkes Argument dafür, das bisherige Einlieferungsverfahren flexibler zu handhaben: „Der Widerstand wäre vermutlich nicht vorgekommen oder hätte doch im Entstehen gebrochen werden können, wenn die Beamten in Uniform gewesen wären. Dem Ersuchen des Gesundheitsamtes entsprechend, wurden die zwangsweisen Einlieferungen bis jetzt in Zivil durchgeführt. Nach diesem schweren Widerstand bitte ich jedoch, dass künftig von Zivilkleidung abgesehen werden kann, wo das nach Sachlage hier für erforderlich gehalten wird. Dies ist umso unbedenklicher, als der Zweck der schonenden Geheimhaltung mit der zwangsweisen Vorführung doch nicht mehr erfüllt werden kann, einerlei, ob die Beamten auch in Zivil sind“.

Schreiben des Innenministeriums vom 8. August 1936 (aus: GLA 236 28569) | Klicken zum Vergrößern

Der Tauberbischofsheimer Landrat Hans Goll, der den Vorgang ans Innenministerium weiterleitete, hielt die Auffassung für richtig, „dass bei zwangsweiser Einlieferung die Zivilkleidung des Gendarmeriebeamten die Geheimhaltung nicht mehr verbürgt, dass aber auf der anderen Seite das Leben der Gendarmeriebeamten wertvoller ist als der mindestens zweifelhafte Erfolg einer Geheimhaltung bei erbkranken Personen“. Dass der Landrat somit dem Gendarmeriekommissar in dem kaum verhohlenen Plädoyer sekundierte, auf die Geheimhaltung wegen erwiesener Nutzlosigkeit zu verzichten, machte in Karlsruhe keinen Eindruck: Zu mehr als der Mitteilung an alle Bezirksämter, Polizeipräsidien, Polizeidirektionen und Gesundheitsämter, dass nichts dagegen eingewendet werde, „wenn in einzelnen besonders begründete Ausnahmefällen die Anwendung unmittelbaren polizeilichen Zwangs gegen Unfruchtbarzumachende durch uniformierte Beamte erfolgt“, konnte man sich im Innenministerium nicht entschließen. Die Geheimhaltung, die in Reaktion auf beziehungsweise in Antizipation von Unmutsäußerungen über die nationalsozialistische „Erbgesundheitspolitik“ verfügt worden war, blieb also bei der zwangsweisen Einlieferung von „Erbkranken“ der Regelfall.

 

Quelle:

GLA 236 28569 (anonymisiert)

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