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„Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war auf regionaler und lokaler Ebene längst überfällig“ – Interview mit Dr. Ernst Otto Bräunche und Dr. Roland Müller über die Anfänge der NS-Forschung im deutschen Südwesten

Mit Arbeiten zum Nationalsozialismus und Antisemitismus in Freiburg, Karlsruhe und Stuttgart sind Dr. Ernst Otto Bräunche (Stadtarchiv Karlsruhe) und Dr. Roland Müller (Stadtarchiv Stuttgart) Pioniere auf dem Gebiete der regionalen NS-Forschung im deutschen Südwesten. Philipp T. Haase befragte die beiden Archivare zu Ihrer Arbeit in den 1970er und -80er Jahren.

Philipp T. Haase: Sie haben mit ihren Arbeiten in den 1970er und -80er Jahren wesentlich zur Erforschung des Nationalsozialismus in Südwestdeutschland beigetragen. Vielleicht können Sie uns einen kurzen Überblick über die von Ihnen behandelten Themen geben.

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Dr. Roland Müller

Dr. Roland Müller: Mein Einstieg war eine Zulassungsarbeit zur sogenannten Reichskristallnacht in Stuttgart, an die sich eine als Überblicksdarstellung angelegte Dissertation über „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“ anschloss, die viele Themen der NS-Forschung einschloss; Schwerpunkte waren die Rolle der Verwaltung als Machtträger sowie der Kommunen im System, der regionale Deportationsprozess sowie der nachgerade klassische Themenbereich Widerstand und Verfolgung. Als ich 1996 die Leitung des Stadtarchivs Stuttgart übernahm, besaß ich damit eine gute Grundlage für weitere Aktivitäten in der Breite der lokalhistorischen Themen, soweit dies der Hauptberuf zulässt, wie auch für die erinnerungspolitische Arbeit.

Dr. Ernst Otto Bräunche: Schwerpunktmäßig habe ich mich seit Mitte der 1970er Jahre mit der Geschichte der badischen NSDAP in der Weimarer Republik beschäftigt. Häufig in Verbindung mit Jahrestagen habe ich dann in den 1980ern zur Machtergreifung und zur sogenannten Reichskristallnacht in Freiburg, dann seit der Übernahme der Leitung des dortigen Stadtarchivs 1985 in Karlsruhe zu diesen Themen gearbeitet.

Philipp T. Haase: Was gab den Anstoß, sich vor allem mit diesem historischen Abschnitt badischer bzw. württembergischer Geschichte zu beschäftigen?

Dr. Ernst Otto Bräunche: Den Anstoß zur Beschäftigung mit der regionalen NS-Geschichte habe ich während meines Studiums an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg bekommen. Aus einem Hauptseminar zur deutschen Parteiengeschichte entstand 1976 die später publizierte Staatsexamensarbeit zur badischen NSDAP bis 1933. Dies war die Basis für die weitere Beschäftigung mit dem Thema, das ich seitdem nicht mehr aus den Augen verloren habe.

Dr. Roland Müller: Ich hatte das Glück, 1978 für den DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit einem Kommilitonen eine Dokumentation zur 40. Wiederkehr der „Reichskristallnacht“ erarbeiten und präsentieren zu können. Nicht minder wichtig wurde eine Debatte in Stuttgart über den Umgang mit der lokalen NS-Geschichte, ausgelöst durch eine politisch nahezu einmütig beschlossene und vom Stadtarchiv umzusetzende „Chronik 1933-1945“ – als reiner Tageskalender, zweifellos damals ein anachronistisches, defizitäres Projekt. Die Auseinandersetzung, an der ich mit Freunden beteiligt war, lieferte einen entscheidenden Anstoß.

Philipp T. Haase: Gelegentlich ist die These zu hören, dass die südwestdeutschen Länder mit ihrer liberalen Tradition im „Dritten Reich“ einen moderateren Weg beschritten. Aufgrund der zeitlichen Nähe waren diese Narrative in den 1970er und -80er Jahren sicherlich noch stärker in der regionalen Öffentlichkeit vertreten als heute. Gab es denn aufgrund der thematischen Brisanz Gegenwind für Ihre Forschung?

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Plakat der Ausstellung „1933 – Machtergreifung in Freiburg und Südbaden“ aus dem Jahr 1983 (aus: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg W 110/3 Nr. 0033 Bild 1 (Permalink: https://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-191145-1))

Dr. Ernst Otto Bräunche: Die These des moderaten Südwestens ist mir natürlich in der älteren Literatur immer wieder begegnet. Auch in den wenigen Zeitzeugengesprächen, die ich damals zum Beispiel mit dem ehemaligen badischen NSDAP-Ministerpräsidenten Walter Köhler geführt habe, wurde dies häufig so dargestellt. Das bedeutete aber nicht, dass sich daraus ein „Gegenwind“ für meine Forschungen und Publikationen entwickelt hätte. Die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Zeit war auf regionaler und auch vor allem auf lokaler Ebene längst überfällig, in den 1980er Jahren war die Zeit dazu dann reif, dass man solche Themen angehen konnte. In Karlsruhe zum Beispiel waren vor allem die im Umfeld des 50. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ durchgeführten Forschungen der Beginn einer bis heute anhaltenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Dr. Roland Müller: Die erwähnte Debatte kam mir in gewisser Weise sogar zugute. Denn mein Doktorvater Prof. Jäckel gewann den persönlich interessierten Oberbürgermeister Rommel angesichts des mittlerweile deutschlandweit bekannten Chronikstreits für ein Stipendium, das der Gemeinderat bewilligte und mir somit Rückenwind gab – übrigens sah die Stadt vor Abschluss des Promotionsverfahrens keine Zeile dieser Arbeit. Außerdem hatte die Stadt gleichzeitig ein Ausstellungsprojekt „Stuttgart im Dritten Reich“ eingerichtet, dem sie aber 1985 leider ein jähes Ende bereitete.

Philipp T. Haase: Mit welchen Problemen hatten Sie ganz allgemein zu kämpfen? Wie stellte sich beispielsweise die Quellenlage dar?

Dr. Ernst Otto Bräunche: Die Probleme waren aus heutiger Sicht zunächst einmal pragmatische. Was heute im Netz steht und inzwischen auch per Volltextrecherche leicht auszuwerten ist, musste damals noch mühsam recherchiert und durchgesehen werden. Archivische Findmittel waren bestenfalls gedruckt oder vervielfältigt, Zeitungen nur analog vorhanden. Die Quellenlage und die Quellenrecherche waren auch deshalb schwieriger als heute, weil viele für die NS-Zeit relevanten Bestände zu einem Teil noch gar nicht in den Archiven waren, die dort schon vorhandenen in der Regel noch nicht erschlossen oder aber noch gesperrt waren. Das Landesarchivgesetz Baden-Württemberg, das erste in Deutschland, durch das viele Archivalien mit personenbezogenen Daten erst für die Forschung frei wurden, kam erst 1988.

Dr. Roland Müller: In der Tat war eine für eine Lokalgeschichte relevante personenbezogene Forschung nur in Ansätzen möglich; die Spruchkammerakten etwa waren noch bis 1990 generell gesperrt. Ansonsten war die Quellenlage für Stuttgart wohl nicht untypisch: Einige Bereiche waren recht gut überliefert, andere, wie beispielsweise der Sicherheits- und Justizapparat, fast gar nicht. Und die angefragten Unternehmen haben nach Kräften „gemauert“, erklärten Unterlagen vernichtet, mit denen sie heutzutage Firmengeschichte schreiben oder schreiben lassen. Die Quellenlage hat sich bei der Konzeption einer Überblicksdarstellung durchaus auf die Fragestellung im Detail ausgewirkt.

Philipp T. Haase: Angesichts der Fülle an Literatur und auch der medialen Präsenz des Themenkomplexes ist häufig zu hören, dass die Geschichte des Nationalsozialismus „ausgeforscht“ sei. Wo steht die regionale NS-Forschung heute?

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Dr. Ernst Otto Bräunche

Dr. Ernst Otto Bräunche: „Ausgeforscht“ sind historische Themen allgemein selten oder nie. Neue Generationen stellen neue Fragen. Unabhängig davon ist aber gerade die Geschichte des Nationalsozialismus nie „ausgeforscht“. Mit gutem Grund erscheinen bis heute immer wieder umfangreiche Publikationen mit neuen Forschungsergebnisse und zwar nicht nur zu staatlichen Institutionen, Berufszweigen oder Firmen, die sich mit der so genannten Aufarbeitung ihrer Geschichte im Nationalsozialismus bis dahin eher zurückgehalten haben. Was für die nationale Forschung gilt, gilt natürlich auch für die regionale oder lokale, obwohl auch diese durch eine Vielzahl von Forschungsarbeiten einen ganz anderen Stellenwert als vor 30 Jahren hat. Nach wie vor sehe ich die Regional- und Stadtgeschichte eher unzureichend an den Universitäten vertreten.

Dr. Roland Müller: Jede Epoche muss ihre Geschichte neu schreiben. Ansonsten bräuchten wir keine Cäsar-Biographie mehr; die Quellenlage wird sich da kaum gravierend ändern. Die frühen Arbeiten hatten zudem auch die Funktion der Rekonstruktion; heute stehen neue Fragestellungen im Vordergrund. Wir erleben in der NS-Forschung auf lokaler Ebene seit über einem Jahrzehnt eine auch durch bürgerschaftliche Projekte wie die Stolperstein-Initiativen beförderte Opferzentrierung sowie eine generelle Individualisierung. Das ist nicht zuletzt für die Bildungsarbeit unverzichtbar. Dabei sollten indes Zusammenhänge sowie Erkenntnisse, die – ich sage das mal selbstbewusst – die Forschung in den letzten Jahrzehnten gesammelt hat, nicht ignoriert oder gar hinter sie zurückgegangen werden.

Philipp T. Haase: In welchen Bereichen sehen Sie noch weiteren Forschungsbedarf?

Dr. Roland Müller: Nach wie vor sind – von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – die Themenfelder “Wirtschaft und Zwangsarbeit“ unterbelichtet, ebenso „Arisierung und Rückerstattung“. Auch die in den vergangenen Jahren auf der Makroebene wie in der Regionalgeschichte intensive Forschung zur sogenannten Volksgemeinschaft ist am Südwesten ziemlich spurlos vorüber gegangen.

Dr. Ernst Otto Bräunche: Um zum Beispiel die These des moderaten südwestdeutschen Weges im Dritten Reich zu bestätigen oder zu widerlegen, fehlt meines Erachtens häufig noch die Vergleichsbasis. Die Erforschung der NS-Landesministerien ist hier sicher ein guter Beitrag. So sind beispielsweise auch die Biographien der NS-Spitzen in den Ländern bzw. NSDAP-Gauen relativ gut erforscht, häufig fehlen aber Forschungen über den Parteimittel- und Unterbau. Hier können auch lokale Studien wichtige Ergebnisse beitragen.

Philipp T. Haase: Vielen Dank für das Gespräch.

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