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Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: Der Justizmord an dem Mannheimer Ehepaar Andreas und Emilie Glock

Andreas Glock, 31.1.1883-22.6.1944, Quelle: GLA 507 Nr. 12364-12367 | Klicken zum Vergrößern

Auch fast 75 Jahre nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ herrscht noch keine vollständige Klarheit darüber, wer zu den „Opfern des Nationalsozialismus“ zu zählen ist. Zwar hat sich der Opferbegriff in den letzten Jahrzehnten beträchtlich erweitert und schließt neben den früh in den Fokus der Erinnerung gerückten Juden und politisch Verfolgten auch lange Zeit marginalisierte Gruppen wie die Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und die Euthanasietoten sowie die Homosexuellen ein; der Status anderer Gruppen ist allerdings immer noch strittig. Hierzu zählen die Wehrmachtsdeserteure und die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten, deren „Anerkennung“ als Opfer des Nationalsozialismus unlängst in einer Petition an den Bundestag gefordert wurde.

Keine Erwähnung finden dort – vermutlich, weil sie in der Regel nicht in Konzentrationslager verbracht wurden, sondern von der NS-Justiz zu Zuchthaus- und Todesstrafen verurteilt wurden – die sogenannten „Volksschädlinge“, die in einer strafverschärfenden Rechtsverordnung vom September 1939 als neue Täterkategorie konstruiert wurden. Der Geltungsbereich der „Volksschädlingsverordnung“, die später noch durch weitere Kriegsverordnungen erweitert wurde, war sehr weit gespannt und umfasste auch Diebstahlsdelikte, die unter den Bedingungen des Krieges als „Plünderungen“ etikettiert wurden und zu Abschreckungszwecken mit dem Tode bestraft werden konnten. Wie drakonisch die Gerichte in solchen Fällen vor allem in den letzten Kriegsjahren vorgingen, sei im Folgenden anhand der knappen Skizze eines Mannheimer Falles aus dem Frühjahr 1944 illustriert.

Am 22. Februar 1944 erschien auf dem Gendarmerieposten Eberbach der Mannheimer Kaufmann Erwin Dreher und erstattete Strafanzeige wegen Diebstahls. Es ging um einen Teil des Inventars seiner Wohnung in der Tattersallstraße Nr. 6, die in der Nacht zum 6. September 1943 bei einem Fliegerangriff auf Mannheim schwer beschädigt worden war. Dreher gab zu Protokoll, am Morgen nach dem Brand und nochmals am Folgetag das einsturzgefährdete Haus in Augenschein genommen und dabei auf der Straße „halbzerstörte Gegenstände meines Speisezimmers, des Kinderzimmers, der Diele und des Fremdenzimmers“ vorgefunden zu haben, die anschließend in der Heiliggeistkirche untergebracht worden seien. Vom Inventar des Schlafzimmers, der Küche und der Speisekammer habe er auf der Straße nichts entdeckt; er sei auch wegen seiner Schwerkriegsbeschädigung nicht in der Lage gewesen, selbst in der Ruine nach den Gegenständen zu suchen. Er habe angenommen, dass das fehlende Inventar zerstört worden sei, und auch später nicht mehr danach suchen können, da er mit seiner Frau bei einem Bekannten in Eberbach ein Ausweichquartier habe beziehen müssen. Gut vier Monate nach dem Fliegerangriff, Mitte Januar 1944, habe er, so gab Dreher zu Protokoll, bei einem Aufenthalt in Mannheim zufällig einen ehemaligen Nachbarn getroffen, der ihm berichtete, dass in den Trümmern des Treppenhauses des früher von ihm bewohnten Hauses noch ein Schrank stehe, der mutmaßlich ihm gehöre. Dreher begab sich vor Ort und stellte fest, „dass der Korridor meiner Wohnung noch teilweise erhalten ist u. dass es durchaus möglich wäre, dass die Küche mit der Speisekammer noch erhalten ist“. Er verschaffte sich daraufhin über ein Brett Zugang zu den fraglichen Räumen und sah, „dass die bisher unversehrte Küche und Speisekammer mit sämmtlichen Möbeln und Hausrat vollständig ausgeplündert war“. Warum Dreher nach dieser Entdeckung vier Wochen verstreichen ließ, bis er die Plünderung bei der Gendarmerie in Eberbach zur Anzeige brachte, geht aus dem Protokoll nicht hervor, ebenso wenig, warum der diensthabende Oberwachtmeister zu dem Schluss kam, Drehers ehemaliger Untermieter Andreas Glock, der von diesem als möglicher Zeuge für den Verbleib des Wohnungsinventars genannt wurde, könne der Täter sein.

Emilie Glock, 26.7.1891-22.6.1944, Quelle: GLA 507 Nr. 12364-12367 | Klicken zum Vergrößern

Am 7. März 1944 nahm sich die Mannheimer Kriminalpolizei des Falles an und befragte zunächst eine ehemalige Nachbarin Drehers, die von ihrer Wohnung aus den Abtransport von Möbeln aus dem zerstörten Haus in der Tattersallstraße hätte beobachten können, wegen starker Kurzsichtigkeit aber zu keinerlei Personenbeschreibungen in der Lage war. Anschließend wurde eine Wohnungsdurchsuchung bei dem mutmaßlichen Zeugen Glock durchgeführt, der nach dem Fliegerangriff mit seiner Frau Unterkunft in dem Haus Lange Rötterstraße 9 gefunden hatte. Dort identifizierte Dreher die vermissten Einrichtungsgegenstände seiner Küche und Speisekammer: Schränke, Tische, Stühle, Geschirr, ein Ofen und auch ein Radio. Einen Tag später, am 8. März, wurde das Ehepaar Glock polizeilich vernommen: Andreas Glock, 61-jähriger Metallarbeiter bei der Firma Heinrich Lanz und Vater dreier erwachsener Kinder aus erster Ehe, gab zu, bei der Bergung der eigenen Hinterlassenschaften eine Woche nach dem Fliegerangriff auch Drehers Kücheneinrichtung an sich genommen zu haben. Es sei ihm bekannt gewesen, „daß sich der Anzeiger Dreher um die Einrichtung und die sichergestellten Gegenstände nicht kümmerte. Aus diesem Grund habe ich angenommen, daß er sie überhaupt nicht mehr benützen wollte“. Ihm sei bewusst gewesen, dass er dazu nicht berechtigt gewesen sei und dass er „unter allen Umständen entweder Dreher selbst, oder die Ortsgruppe“ der NSDAP hierüber hätte benachrichtigen müssen. Allerdings habe er die Einrichtung „nicht dauernd für mich behalten“ wollen, „sondern wollte sie nur jetzt vorübergehend benützen, weil sie von dem Anzeiger Dreher nicht benötigt wurde“.

Emilie Glock, 50-jährige Kellnerin, zweifache Mutter aus geschiedener erste Ehe und seit Juli 1943 mit Andreas verheiratet, bestätigte die Wegnahme der Kücheneinrichtung, datierte diese aber nicht auf eine, sondern auf sechs bis acht Wochen nach dem Fliegerangriff. Nicht ihr Ehemann, sondern Soldaten eines Räumungskommandos, hätten auf ihre Veranlassung das Inventar aus der Tattersallstraße in die Lange Rötterstraße gebracht. Sie sei davon ausgegangen, dass ihr Ehemann Dreher hierüber unterrichtet habe; sie selbst habe diesem im Oktober einen Brief geschrieben, der allerdings statt nach Lindach bei Eberbach nach Limbach im Odenwald adressiert gewesen und deshalb möglicherweise nicht angekommen sei. Was die Wegnahmemotive betraf, äußerte sich Emilie Glock ganz im Sinne der Aussage ihres Ehemannes: Ein „großer Teil von den Einrichtungsgegenständen von Dreher“ habe „wochenlang auf der Straße“ gestanden, „ohne daß dieser sich um die Gegenstände bekümmert hatte. Die sämtlichen Gegenstände sind von mir nur deshalb benützt worden, weil meine Sachen derartig beschädigt waren, daß ich sie nicht mehr benützen konnte. Ich will damit sagen, daß diese Gegenstände nur zum Gebrauch von mir benützt worden sind, aber ich sie mir niemals für dauernd aneignen wollte. Ich bestreite, daß ich mich wegen Plünderung strafbar gemacht habe“.

Abschiedsbrief Andreas Glocks an seine Frau, Quelle: GLA 507 Nr. 12364-12367 | Klicken zum Vergrößern

Diese Beteuerungen bewahrten das Ehepaar Glock nicht vor der Untersuchungshaft. Das nun anlaufende Strafverfahren vor dem Sondergericht Mannheim dauerte nicht wesentlich länger als die Räumung des beim Fliegerangriff teilzerstörten Hauses: Anfang April 1944 erhob der Oberstaatsanwalt Anklage gegen das Ehepaar wegen gemeinschaftlicher Plünderung, die nach § 1 der „Verordnung gegen Volksschädlinge“ strafbar war. Verhandelt wurde der Fall vom Sondergericht am 5. Mai. Unter der Leitung des Vorsitzenden des Sondergerichts Edmund Mickel verhängte es gegen beide Angeklagte die Todesstrafe. Deren Einlassung, sie hätten das Inventar für „herrenlos“ gehalten, da Dreher kein Interesse daran gezeigt habe, hielt das Gericht für nicht glaubhaft: Die Glocks hätten gewusst, dass „sich Dreher um seine Gegenstände nicht kümmern konnte, weil er sie für verbrannt hielt“. Auch „ihre weitere Einlassung, sie hätten die weggenommenen Sachen nur in vorübergehenden Gebrauch nehmen wollen“, sei unglaubhaft: „Denn zum Teil waren die Gegenstände nur zum Verbauch bestimmt (Klebstreifen, Seife, Glaspapier, Lederfett, Wäsche, Hemden, Hausschuhe, Faden, Leder). Entscheidend aber“ spreche „für ihren Aneignungswillen, dass sie dem Eigentümer keinerlei Mitteilung zukommen liessen“ – den falsch adressierten Brief hatten beide während der Haft als Lüge eingestanden.

Irgendwelche mildernden Umstände, wie etwa die eigene Notlage der Angeklagten oder ihre bisherige Unbescholtenheit, anerkannte das Gericht nicht; im Gegenteil wurde sogar eine dreiwöchige Gefängnisstrafe Emilie Glocks aus dem Jahr 1918 angeführt, obwohl diese längst aus dem Strafregister gestrichen war. Ermessensspielräume gab es ohnehin nicht, wenn der Tatbestand der Plünderung als erwiesen angesehen wurde: Die Angeklagten „haben in einer Zeit allgemeiner Not sich an der letzten Habe schwerfliegergeschädigter Volksgenossen vergriffen und dadurch eine Gesinnung bekundet, die ihre Eigenschaft als Volksschädlinge erkennen lässt. Sie muss deshalb die im Gesetz allein angedrohte Todesstrafe treffen“. Vollstreckt wurde diese am 22. Juni 1944. Ob das Ehepaar nach dem Schnellverfahren am Sondergericht am 5. Mai, gegen das keine Berufung möglich war, noch Kontakt zueinander hatte, ist den überlieferten Akten nicht zu entnehmen. Allerdings findet sich dort noch ein Abschiedsbrief Andreas Glocks an seine Ehefrau – ob sie ihn erhalten hat oder ob er sich in den Akten befindet, weil er konfisziert wurde, ist ungewiss. Gewiss ist allerdings, dass der zuständige Richter für sein Urteil und für die anderen von ihm verhängten Todesurteile nicht zur Rechenschaft gezogen wurde: Zwar geriet Edmund Mickel wegen seiner exponierten Stellung als Vorsitzender eines Sondergerichts im Mai 1945 in 15-monatige Internierungshaft; die Spruchkammern, zuletzt die Zentralspruchkammer Nordbaden, schenkten jedoch seinen Beteuerungen Glauben, politisch unabhängig gewesen zu sein und nur das Gesetz zur Richtschnur seines Handelns gemacht zu haben, so dass er schließlich als „entlastet“ galt.

Quelle: GLA 507 Nr. 12364-12367

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