Hü und hott im badischen NSDAP-Gaupersonalamt: Politische Gutachten über den Ministerialoberrechnungsrat Wilhelm Karle
Die Landesministerien in Baden und Württemberg standen in der Zeit des Nationalsozialismus unter Druck von zweiten Seiten: Zum einen engte die „Verreichlichung“ ihre Handlungsspielräume ein, indem sie ihre Aktivitäten an den Maßgaben der vorgesetzten Behörden in Berlin ausrichten und ihre Entscheidungen mit ihnen abstimmen mussten. Zum anderen mussten sie sich gegenüber den regionalen hohen Parteiinstanzen behaupten, namentlich gegenüber den in Personalunion als Reichsstatthalter amtierenden Gauleitern der NSDAP mit ihren Apparaten. Eine besondere Rolle spielten dabei die Gaupersonalämter, die in den Personalangelegenheiten der Landesministerien ein Vetorecht geltend machten. Zu welchen Konflikten es in dieser Konstellation kommen konnte, sei am Beispiel der Beförderung des Ministerialoberrechnungsrats im badischen Innenministerium Wilhelm Karle zum Regierungsrat, die sich über mehrere Jahre hinzog, vorgeführt. Zugleich illustriert sein Fall, wie problematisch der Quellenwert der von den Gaupersonalämtern angefertigten „politischen Gutachten“ ist.
Mit Wilhelm Karle, der seit 1921 der badischen Ministerialbürokratie angehörte und seit 1925 im Innenministerium tätig war, befasste sich das Gaupersonalamt der NSDAP in Karlsruhe erstmals, als diesem im Sommer 1937 das Nebenamt eines Beisitzers für den Reichsdienststrafhof in Berlin übertragen werden sollte. In dem Fragebogen, der die Informationen für die politische Beurteilung erhob, wurde in der Rubrik „Politische Vergangenheit“ vermerkt, dass Karle vor 1933 persönlich nicht als Gegner des Nationalsozialismus in Erscheinung getreten sei und dass er zwar in seiner Dienststellung Anordnungen des sozialdemokratischen Innenministers Adam Remmele vollzogen habe, die er „aber gegen sein Inneres ausführte“. Zu seiner „Einstellung zum nationalsozialistischen Staat und zur Volksgemeinschaft“ wurde die „Gebefreudigkeit“ – das heißt: die Bereitschaft zu Spenden für Parteiorganisationen – bejaht, zugleich aber festgehalten, dass ihm die Voraussetzungen, in „nat.soz. Sinne“ auf seine Volksgenossen einzuwirken, noch fehlten. Als einschlägige Mitgliedschaften wurden die in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und im Reichsbund der Deutschen Beamten (dort aktive Mitarbeit) genannt, und die „charakterliche Wertung“ war zwiespältig, wurde aber eher ins Positive gewendet: „Karle ist der gegebene Beamte, der vollkommen in seinem Beruf aufgeht – gewissenhaft u. pünktlich. Seine Umgangsformen u. Charakter sind vollkommen unantastbar“. Das Gesamtvotum lautete „politisch zuverlässig“, und die Gaupersonalamtsleitung wollte folglich gegen seine Berufung „in politischer Hinsicht keine Bedenken geltend“ machen. Erst einige Wochen nach Ausfertigung des Gutachtens ging Anfang August 1937 beim Gaupersonalamt noch eine Beurteilung Karles durch den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Unterabschnitt Baden, ein, die ihm ebenfalls attestierte, ein „tüchtiger Beamter“ zu sein, aber seine „weltanschauliche Einstellung“ und seine charakterliche Haltung „schwer zu beurteilen“ fand: Er lege „immer ein äusserst kurzes, zynisch-geheimnisvolles Wesen an den Tag“, und seinem „äusseren Verhalten nach lässt die kameradschaftliche Haltung zu wünschen übrig. Bei Ausflügen hält sich K. der Gemeinschaft fern, d. h. er nimmt daran teil, beteiligt sich aber nie an der gemeinsamen Unterhaltung“. Dies sei wohl „teilweise auf seine verschlossene Lebensveranlagung zurückzuführen“. Schaden konnte diese Stellungnahme, die offenkundig von Denunzianten aus dem Innenministerium ausgegangen war, nicht mehr anrichten, denn die Ernennung Karles in sein Berliner Nebenamt war bereits auf den Weg gebracht worden.
Den Anlass zu einem zweiten Gutachten des Gaupersonalamts über Karle bot im März 1938 eine Anfrage des Innenministers Karl Pflaumer, der ihn zum Regierungsrat befördern wollte und sich erkundigte, ob hiergegen politische Bedenken bestünden. Der Gaupersonalamtsleiter Adolf Schuppel verneinte dies in einem kurzen Schreiben, zog sein Gutachten aber Mitte Mai zurück, da ihm „nachträglich noch verschiedene Tatsachen“ über Karle bekannt geworden seien, die eine Änderung der Einschätzung nötig machten. Ein neu angefertigter Beurteilungsbogen war in ähnlichem Tenor gehalten wie der des Vorjahres. Für Karle sprach, dass er inzwischen in die NSDAP eingetreten war und das Amt eines Blockhelfers übernommen hatte, und die charakterliche Wertung fiel weniger ambivalent aus: Er sei „umgänglich, zuvorkommend, freundlich, willig und einsatzbereit“. Das Gesamturteil in dem Bogen lautete erneut „politisch zuverlässig“, wenngleich dieses Mal Karles „grosse Anpassungsfähigkeit“ betont wurde, „die es ihm ermöglichte, sich durch alle Regierungswechsel des vergangenen Jahrzehnts das Wohlgefallen und Wohlwollen aller Parteifarben zu erhalten“. Schuppel, dem als Amtsleiter das letzte Votum zukam, stellte in seiner Beurteilung diese Anpassungsfähigkeit ganz in den Mittelpunkt: Karle habe eine positive Einstellung zum Nationalsozialismus erst erkennen lassen, „als ihm ein Rückschlag ausgeschlossen schien. Er ist nicht als Kämpfer für eine Idee zu werten, sondern als Nutzniesser der jeweils herrschenden politischen Richtung. Von den nationalsozialistischen Beamten wird er als Personalsachbearbeiter abgelehnt. Auch seine Beförderung zum Regierungsrat würde nicht verstanden werden“.
Diese kritische Stellungnahme des Gaupersonalamts nahm Reichsstatthalter Robert Wagner zum Anlass, den Antrag Pflaumers auf Beförderung Karles zum Regierungsrat nicht an das Reichsinnenministerium weiterzuleiten. Zur Begründung verwies Wagner darauf, dass es sich bei der beantragten Beförderung um den Ausnahmefall „der Überführung eines gehobenen mittleren Beamten in den höheren Dienst“ handele, für den besonders strenge politische Maßstäbe anzulegen seien, die Karle nicht erfülle. Er verwies in diesem Zusammenhang auf dessen bloß beamtenpflichtschuldige Mitarbeit in der nationalsozialistischen Bewegung und auch darauf, dass es Karle bislang nicht verstanden habe, „ein kameradschaftliches Verhältnis zu seinen Berufskameraden herzustellen“.
Hierauf reagierte Pflaumer mit einer ausführlichen Stellungnahme, die Karles parteipolitische Meriten hervorhob, sich aber vor allem auf den Vorwurf unkameradschaftlichen Verhaltens konzentrierte: Karle sei in seinem Hause, so der Innenminister, vorwiegend mit der Bearbeitung von Personalsachen befasst und habe „damit eine Tätigkeit auszuüben, die erfahrungsgemäß bei allen Verwaltungen, auch im Falle besten Wollens und einwandfreier Leistung, bei einzelnen Gefolgschaftsmitgliedern eine persönliche gegnerische Einstellung gegenüber dem Personalsachbearbeiter zur Folge hat, weil sie die ihnen ungünstigen Entscheidungen, mögen sie sachlich und rechtlich noch so unantastbar sein, aus Verständnislosigkeit dem persönlichen Übelwollen des Personalsachbearbeiters zuschreiben“. Pflaumer sah also politische Querulanten im Innenministerium am Werke, wenngleich er betonte, dass ihm selbst nie irgendwelche Beschwerden über Karle zugetragen worden seien. Er hielt das Urteil des Gaupersonalamts für unbegründet und forderte, ihm „bestimmte Tatsachen und Einzelfälle“ anzugeben. Bis dahin stelle er den Beförderungsantrag zurück, so Pflaumer, der am Schluss seines Schreibens etwas verklausuliert davor warnte, der Denunziation in der Beamtenschaft nicht Tür und Tor zu öffnen: Er sei überzeugt, dass die weitere Behandlung des Falles Karle, „soweit sie den Vorwurf der Unkameradschaftlichkeit betrifft, in den Augen der Beamtenschaft der gesamten badischen inneren Verwaltung und wohl noch darüber hinaus symptomatische Bedeutung erlangt und damit die allgemeine Stimmung beeinflussen könnte, von der bei der heranwachsenden Generation die Bereitwilligkeit zum Eintritt in das Beamtenverhältnis abhängig ist“. Das von Wagner zur Stellungnahme aufgeforderte Gaupersonalamt wollte die Einwände Pflaumers nicht gelten lassen und bekräftigte im April 1939 – seit der Vorlage des Beförderungsantrags war also schon gut ein Jahr vergangen – die Vorbehalte gegen Karle. Der Aufforderung, Ross und Reiter zu nennen, entzog sich man sich dabei und beließ es bei der pauschalen Feststellung, dass die „Masse der nationalsozialistischen-geschulten Beamten … heute innerlich die personelle Betreuung durch einen in der Systemzeit begünstigten Beamten“ ablehne. Pflaumers argumentum ex negativo entgegnete man spöttisch: „Wenn der Badische Minister des Innern beispielsweise einen Beamten seines Ministeriums frägt, ob Herr Ministerialoberrechnungsrat Karle ‚unkameradschaftlich‘ sei, so erhält er selbstverständlich die Antwort ‚Nein‘. Eine solche Antwort ist jedoch völlig nichtssagend und scheidet als Gegenbeweis für die Feststellung der Partei von Anfang an aus“. Auch für Pflaumers Einwand, dass von dem Fall Karle fatale Signale für die gesamte badische Beamtenschaft ausgehen könnten, fand man im Gaupersonalamt deutliche Worte: Im Gegensatz zu den Befürchtungen des Innenministers würde gerade ein unverdienter Aufstieg Karles „auf weite Sicht hin dem Ansehen der Beamtenschaft und damit der ‚Bereitwilligkeit der heranwachsenden Generationen zum Eintritt in das Beamtenverhältnis‘ lediglich schaden“.
Wagner machte sich, sofern er sie nicht sogar selbst veranlasst hat, die Einschätzung des Gaupersonalamts zu eigen, so dass die Beförderung Karles zunächst unterblieb. Gut zweieinhalb Jahre später, im November 1941, unternahm Pflaumer in dieser Sache einen erneuten Vorstoß, und erneut war das Gaupersonalamt zu einer Stellungnahme aufgefordert. In dem hierbei entstandenen dritten „Fragebogen zur politischen Beurteilung“ wurden Karles fortgesetzte Anpassungsbemühungen – mittlerweile figurierte er als „Politischer Leiter“ in der NSDAP – in keiner Weise honoriert. Bei der Frage nach einer Gegnerschaft zur NSDAP vor 1933 hieß es nun: „offen nicht – innerlich war er auf der anderen Seite“. Zum Besuch von Schulungs- und Kameradschaftsabenden wurde vermerkt: „ist heute überall zu sehen“, und die Frage, ob er den nationalsozialistischen Staat bejahe, wurde beantwortet mit: „ja – er hat auch keine andere Wahl!“ Die charakterliche Wertung wiederholte seine erstaunliche politische Anpassungsbereitschaft, und das Gesamturteil lautete: „Es scheint Karle gelungen zu sein, bei den höchsten Verwalt.beamten im MdI die Beförderung zum Regierungsrat zugesichert zu erhalten. Hier wird wie üblich etwas geplant, wozu die Partei ihren zustimmenden Namen hergeben soll. Antwort: ablehnen. Karle soll sich hinten anschliessen und sich freuen, dass er als Beamter überhaupt belassen wurde“.
Erstaunlicherweise schloss sich Gauamtsleiter Schuppel diesem Votum nicht an, sondern teilte in einem dürren Schreiben an Pflaumer nur mit, dass „in politischer Hinsicht keine Einwendungen mehr erhoben“ werden gegen die vorgesehene Ernennung Karles zum Regierungsrat. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden: Möglicherweise hatte Wagner seine Meinung geändert und interveniert, möglicherweise war aber auch der Gauamtsleiter selbst zu der Auffassung gelangt, dass man wegen der kriegsbedingten Schwierigkeiten, die sich in den Ministerien durch Personalengpässe bei wachsendem Arbeitsanfall bemerkbar machten, die Maßstäbe in der Personalpolitik korrigieren musste und unter dieser Prämisse einem unzweifelhaft sachkundigen Altbeamten sein Laufbahnavancement zugestehen konnte, zumal dieser ja erhebliche politische Anpassungsanstrengungen unternommen hatte. Diese lassen sich aus der Gauamtspersonalakte Karles anhand der dort festgehaltenen Mitgliedschaften und Funktionen rekonstruieren. Um darüber hinaus aus den nicht nur in Details divergierenden, sondern sich in wesentlichen Punkten widersprechenden Fragebögen und Gutachten Informationen über die mutmaßliche innere Einstellung Karles zum Nationalsozialismus herauszudestillieren, bedürfte es einer hermeneutischen Übung für Fortgeschrittene, mit der der Verfasser dieser Zeilen diese Leserinnen und Leser des Blogs indes nicht behelligen möchte.
Quelle: GLA 465c Nr. 839
Quelle Karle