Zeugeneinschüchterungen durch die SA und Reaktionen des badischen Justizministeriums darauf – ein Rastatter Fall vom Herbst 1934
Alle nationalsozialistischen Landesminister bemühten sich darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Autonomie der Staatsverwaltung auch nach der Machtübernahme fortexistierte und die Ministerien nicht bloß als verlängerter Arm der NSDAP-Parteistellen agierten. Besonders schwierig war diese Aufgabe für die Landesjustizministerien. Einerseits musste man darauf Rücksicht nehmen, dass die rechtsstaatlichen Prinzipien seit Generationen fest in der Gesellschaft verankert waren und die Bürgerinnen und Bürger deshalb einzuschätzen wussten, wie die Justiz funktionieren sollte und welche Verfahren und Praktiken recht oder unrecht waren. Andererseits fühlten die neuen Protagonisten der Landesjustizverwaltungen sich selbst dem Ziel verpflichtet, die Justiz zu politischen Zwecken einzusetzen. Wie sie in diesem Spannungsfeld agierten, sei im Folgenden an einem badischen Beispiel illustriert, das sich im Herbst 1934, wenige Wochen vor der Aufhebung der Landesjustizministerien im Zuge der sogenannten „Verreichlichung“ der Justiz, ereignete.
Anlass zu einer Intervention des badischen Justizministeriums bot ein Strafverfahren gegen zwei Angehörige der SA, die sich im Oktober 1934 vor dem Amtsgericht Rastatt wegen erschwerter Körperverletzung verantworten mussten. Während der Gerichtsverhandlung wurde aktenkundig, dass sowohl das Opfer als auch die Zeugen des Vorfalls eingeschüchtert worden waren: Der Sturmbannführer der beiden angeklagten SA-Männer war von der örtlichen Polizei über die Tat informiert worden und hatte daraufhin durch den Bürgermeister das Opfer und die Zeugen aufs Rathaus bestellt, um sie dort zu „vernehmen“. Im Dabeisein der Angeklagten waren dem Opfer und den Zeugen „ihre in der Gendarmeriemeldung niedergelegten Angaben vorgehalten“ worden mit der Frage, „ob sie diese Angaben aufrecht erhalten wollten“. Über diese Vernehmung war von dem Sturmbannführer ein Protokoll angefertigt worden.
Offenkundig misslang der Einschüchterungsversuch oder glückte nicht ganz, denn die beiden angeklagten SA-Männer Josef Kassel und Wilhelm Müller aus Ottersdorf wurden vom Amtsgericht Rastatt zu Gefängnisstrafen verurteilt. Dennoch sah das Gericht ihn als so gravierend an, dass es den badischen Generalstaatsanwalt Emil Brettle informierte. Dieser suchte den persönlichen Kontakt zu Heinz Pernet, dem Führer der SA-Brigade 53 (Karlsruhe). Pernet, ein Veteran des Hitler-Putsches vom November 1923, missbilligte „das beanstandete Verhalten“ und sagte zu, „dem Sturmbannführer das Geeignete zu bemerken“.
Justizminister Otto Wacker, selbst ehemaliger SA-Mann, aber 1933 zur SS gewechselt, der zwischenzeitlich von Brettle über den Vorfall informiert worden war, betrachtete mit der Ankündigung Pernets, den Sturmbannführer bei Gelegenheit zurechtzuweisen, „die Angelegenheit für erledigt“, wie er am 8. November 1934 dem Amtsgericht Rastatt mitteilen ließ. Allerdings sah Wacker in der grundsätzlichen Frage, wer wen wie über Strafmeldungen informieren darf, Handlungsbedarf und wandte sich in dieser Angelegenheit am gleichen Tag an seinen Ministerkollegen und Parteifreund Karl Pflaumer, auch er früherer SA-Angehöriger, in dessen Innenressort die Zuständigkeit für die Polizei fiel. In seinem Schreiben rekapitulierte Wacker den Vorfall, den er für bedenklich hielt, weil eine Einschüchterung von Zeugen „die Wahrheitsermittlung im Strafprozess“ erschwere. Überdies dürfe ein solches Eingreifen durch die Staatsbehörden auch deshalb nicht gebilligt werden, weil es das Ansehen der Gendarmerie gefährde, wenn „deren Meldungen durch eine unberufene Instanz gewissermaßen nachgeprüft werden“. Zwar dürften „gelegentliche Übergriffe von SA. – oder anderen Parteistellen auch in Zukunft nicht ganz zu verhüten sein“, meinte Wacker, versprach sich aber Erleichterung, wenn in Zukunft „den SA-Dienststellen keine Doppel der Gendarmeriemeldung mehr zugehen“; solche „Eingriffe in die Rechtspflege“, wie in Rastatt geschehen, seien dann „kaum mehr zu befürchten“.
Innenminister Pflaumer teilte diese Einschätzung und ordnete am 5. Dezember 1934 an, in der nächsten Nummer des Gendarmerie-Verordnungsblattes auf die Unzulässigkeit der bisherigen Praxis der Weiterleitung von Strafmeldungen „gegen Angehörige der NSDAP (insbesondere der SA und der SS) an Parteidienststellen“ durch Beamte der Polizei und der Gendarmerie hinzuweisen. Die Entscheidung, „ob und inwieweit einer Parteidienststelle über den Stand oder das Ergebnis eines Strafverfahrens […] Mitteilung gemacht werden kann“, so der Innenminister, „kommt nur der zuständigen Behörde (Staatsanwaltschaft, Bezirksamt usw.) zu“. Entsprechende „Auskunftsersuchen“ seien von den Angehörigen des staatlichen Sicherheitsdienstes unbeantwortet „an die zuständige Behörde zur weiteren Entschließung zu verweisen“. Die Rücksichtnahme auf vermeintliche Belange der Parteistellen wollte Pflaumer den Gendarmen indes nicht vollständig verbieten: Sei „nach den Umständen eines Falles anzunehmen, daß der Wortlaut einer Strafmeldung für eine Parteidienststelle von Bedeutung ist, so kann eine Doppelschrift der Strafmeldung der Vorlage an die zuständige Behörde angeschlossen werden“.
Taugt der hier geschilderte Fall dazu, die nach 1945 gebetsmühlenhaft vorgetragene These zu stützen, dass die staatliche Verwaltung im Allgemeinen und die Justiz im Besonderen während des „Dritten Reiches“ normenstaatlichen Prinzipien gefolgt und daraus Dauerkonflikte mit den Parteistellen der NSDAP erwachsen seien? Der Verfasser dieser Zeilen meint: nein. Zwar nutzte Wacker auch das Argument, polizeiliches und gerichtliches Verfahren sollten der „Wahrheitsfindung“ dienen; sein Hauptmotiv dürfte jedoch gewesen sein, den ihm als Justizminister unterstellten Behörden eine gegenüber den Parteistellen möglichst große Handlungsfähigkeit zu erhalten. Auch zielten Pflaumers Anordnungen nicht darauf, eine Einflussnahme von Parteistellen auf polizeiliche und gerichtliche Verfahren konsequent zu unterbinden, sondern verlagerten die Entscheidungen über die Zulässigkeit von Einflussnahme von den lokalen Akteuren auf die übergeordneten staatlichen Instanzen; auch ihm dürfte es eher um die Autonomie der Verwaltung als um die Pflege der Normen selbst gegangen sein. Als Beispiel für die oft beschworenen Abwehrgefechte des Rechtsstaats gegen die Zumutungen der Partei kommt der Vorfall auch deshalb nicht in Betracht, weil die rechtsstaatlich gebotene Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den selbsthilfewilligen Sturmbannführer wegen Strafvereitelung unterblieb.
Quelle: GLA 240 Zugang 1987-53 18
Quelle SA und Justiz