„Immer ein verfolgter Nazi?“: Erwin Otto Schmidts NS-Biographie als Nachkriegsnarrativ (Kapitel 3)
Nach den persönlichen Schicksalsschlägen der letzten Kriegsmonate – der Zerstörung seines Karlsruher Hauses und dem Tod seiner Ehefrau – verlor Erwin Otto Schmidt mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ seine berufliche Stellung: Als Altparteigenosse der NSDAP wurde er auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung im September 1945 aus seinem Amt als Oberregierungsrat im badischen Kultusministerium, in das er im Jahr 1933 aufgestiegen war, entlassen. Bereits vier Monate zuvor war sein Gehalt gesperrt worden, wogegen Schmidt sich vergeblich zu wehren versucht hatte, unter anderem mit der Vorlage einer Erklärung, in der er seine politische Biographie der vergangenen zwölf Jahre skizzierte: Er habe seit April 1933 keine Funktion mehr in der NSDAP bekleidet, keine Parteiveranstaltungen besucht und keine Uniform getragen, sondern vielmehr „passiven Widerstand“ gezeigt, „kümmerte mich nicht um politische Anordnungen u. verweigerte jegliche Mitarbeit“, machte er in einem Schreiben an die Militärregierung – zu diesem Zeitpunkt war noch die französische für Karlsruhe zuständig – vom 14. Mai 1945 geltend.
Wegen seines dissentierenden politischen Verhaltens habe er, so Schmidt dort weiter, schwere berufliche Nachteile erlitten: Zum 1. Januar 1941 sei er aus dem Kultusministerium „hinausgeworfen“ worden; erst nach einem Jahr Arbeitslosigkeit habe er seinen Dienst wiederaufnehmen dürfen. „In den folgenden Jahren wurde ich ununterbrochen gedrückt u. gequält oft in meiner Ehre verletzt u. beleidigt u. seelisch mißhandelt. Es war ein jahrelanger Leidensweg. Jede finanzielle Besserstellung bezw. Beförderung wurde durch die Gauleitung abgelehnt. In einer Unterredung am 20. Dezember 1944 in Baden-Baden beschwerte ich mich zuletzt wegen der schlechten Behandlung. Darauf brüllte mich Minister Schmitthenner an u. schrie: ‚Ich werde Sie durch den Gauleiter aus dem Ministerium hinausbringen‘. Wenn der Umsturz nicht gekommen wäre, wäre ich mit aller Sicherheit aus dem Ministerium hinausgeflogen u. würde im Konzentrationslager sitzen“. Durch das „verhaßte Nazisystem, das ich seit 1933 bekämpft, habe ich verloren meine Frau, mein Haus, mein Hab u. Gut, meine Gesundheit u. wurde in meinem Beruf geschädigt. Ich fordere dafür Entschädigung auf Kosten der früheren Verantwortlichen u. bitte ergebenst um Genehmigung“, so Schmidt, der auf seine bisherige Beamtenstelle zurückkehren wollte oder aber eine Verwendung in der „Wirtschaft (Industrie, Handwerk, Wirtschaftskammer, Arbeitsamt)“ anstrebte.
Mit derselben Taktik – der Umdeutung von persönlichen Konflikten mit NSDAP-Parteifunktionären zu einer konsequenten politischen Systemopposition, bizarren Überzeichnungen der eigenen „Verfolgung“ und der offenen Lüge, die krankheitsbedingte Beurlaubung vom Dienst 1941 zur politisch motivierten Entlassung in die Arbeitslosigkeit zu adeln – wandte sich Schmidt im November 1945 auch an die amerikanische Militärregierung, die auf seine Forderung, die Gehaltssperre aufzuheben und ihn wieder zu beschäftigen, allerdings ebenfalls nicht reagierte. Wie die allermeisten Beamten, die 1945 aus politischen Gründen entlassen worden waren, musste auch Schmidt das Spruchkammerverfahren abwarten, von dessen Ausgang abhängig war, ob er in den öffentlichen Dienst zurückkehren konnte.
Sein Verfahren wurde vor der Spruchkammer Karlsruhe geführt, die sich im Sommer 1947, also knapp zwei Jahre nach seiner Entlassung, seinem Fall zuwandte. Auf das Verfahren versuchte Schmidt mit einer Reihe von Schriftsätzen Einfluss zu nehmen, in denen er sein 1945 entwickeltes autobiographisches Narrativ erweiterte und variierte. Da sich seine Formalbelastung als NSDAP-Parteimitglied seit 1930 nicht wegdiskutieren ließ, konzentrierte sich Schmidt in seinen Rechtfertigungsschriften darauf, den Vorwurf, er sei „Nutznießer“ der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen, zu entkräften, indem er darauf abhob, dass sein Aufstieg aus dem Gewerbeschuldienst in die Ministerialbürokratie im Jahr 1933 keineswegs politisch bedingt gewesen sei. So verstieg er sich in einem Schreiben vom 8. September 1947 zu der Behauptung, „daß ich gegen meinen Willen ins Unterrichtsministerium eintreten mußte und dort von Anfang (1933) an von NS-Führern mehr und mehr gedrückt, beleidigt und in meiner Berufsehre angegriffen wurde“. Auch habe ihm die Ernennung „keine Vorteile und besonders keinen finanziellen Nutzen, sondern nur Nachteile gebracht“, meinte Schmidt, der sein letztes Gewerbeschullehrergehalt seinen Bezügen als Regierungsrat (die um knapp vier Reichsmark monatlich höher lagen) gegenüberstellte – dass er schon ein halbes Jahr nach seinem Eintritt ins Ministerium und damit außergewöhnlich früh zum Oberregierungsrat befördert wurde, ließ Schmidt bei dieser Rechnung allerdings außer Betracht. Von März 1934 bis 1945 sei er dann gar nicht befördert worden, ein „untrügliches Zeichen dafür, daß ich seit der nat.soz. Gewaltherrschaft, also seit 1933, mich für die Partei nicht mehr einsetzte und mehr und mehr zum Widerstand überging“. Vom Ausgang seines Verfahrens nahm Schmidt deshalb „mit Bestimmtheit“ an, „daß ich als Entlasteter unter die Weihnachtsamnestie eingereicht werde“.
Um einer solchen Einstufung den Weg zu bereiten, hatte Schmidt einige Entlastungszeugnisse, überwiegend von Gewerbeschullehrern, gesammelt, die ihm bescheinigten, in seiner amtlichen Funktion immer sachbezogene Arbeit geleistet und dadurch den Zorn der Parteifunktionäre auf sich gezogen zu haben. Schmidt sei, so Otto Zipperlin, „höchstens vor der Machtübernahme ein Nazi“ gewesen. „Die auf die Dauer unerträglichen Speichelleckereien um die höheren Führer der Partei, die für einen Kulturmenschen unerträglichen Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und Kirche, die mit der Zeit immer offenkundiger in Erscheinung tretenden Vorbereitungen auf einen angeblichen Präventivkrieg entfremdeten ihn von Jahr zu Jahr der Partei, so daß man annehmen muß, daß er seit dem Jahre 1937 ein ausgesprochener Gegner des Nazisystems geworden war“. Durch „politischen Druck auf Andersdenkende“ habe sich Schmidt“ nie gegen die „allgemeinen Menschenrechte vergangen“. Wohl aber habe er „infolge seiner sozialen Grundeinstellung vielen Menschen, die in Not geraten waren, geholfen, ohne jemals aus einer solchen Handlung Nutzen gezogen zu haben“.
Was in den allermeisten Fällen durch eigene Entlastungsnarrative und flankierende Persilscheine gelang, nämlich die direkte Einstufung als „Mitläufer“, missglückte Schmidt, da der Öffentliche Kläger auch einige belastende Aussagen vorlegen konnte, die Zweifel an der Selbstdarstellung des entlassenen Oberregierungsrats bekräftigten oder vielleicht auch erst weckten. Da Schmidt seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus vor allem wegen der Kontroversen innerhalb des Kultusministeriums geltend machte, lag es nahe, Erkundigungen bei ehemaligen Kollegen einzuholen, von denen einige auch ausführlich Auskunft gaben. Zu ihnen zählte der ehemalige Hilfsreferent in der Fach- und Gewerbeschulabteilung Franz Eichkorn, der sich in einem Schreiben vom 30. Juli 1947 schwertat, Schmidt eindeutig zu charakterisieren: Es sei „nicht leicht, einem Uneingeweihten aus diesem Wust von Altkämpfertum, menschlicher Unzulänglichkeit und Postenjägerei ein klares Bild zu zeichnen“. Dass Schmidt mit den Funktionären des Nationalsozialistischen Lehrerbundes in einem Dauerstreit gestanden habe und insbesondere sein Verhältnis zum späteren Ministerialdirektor Karl Gärtner völlig zerrüttet gewesen sei, stellte Eichkorn nicht in Abrede; allerdings seien alles dies Konflikte unter Altparteigenossen gewesen, und in seiner Amtsführung habe sich Schmidt immer den Zielen des Regimes verpflichtet gefühlt und habe er etwa alles getan, „um der vormilitärischen Ausbildung der Jugend zu dienen“.
Auch hielt Eichkorn Schmidt seine notorische Kirchenfeindschaft vor, die ihm umso übler erschien, als sie im „Dritten Reich“ bekanntlich das „billigste Mittel“ gewesen sei, jemanden „als Gegner unschädlich zu machen“. Auf politischen Fanatismus wollte Eichkorn dies nicht zurückführen, sondern machte Charakterdeformationen bei Schmidt geltend: „Er selber ist nach meiner Überzeugung ein Aussenseiter mit krankhaftem Geltungsbedürfnis. Überall hatte er Krach und kein Mensch wollte mit ihm zusammenarbeiten“. Den gleichen Tenor hatte auch eine Zeugenaussage Otto Wiebers, der als Regierungsamtmann zwölf Jahre an der Seite Schmidts im Kultusministerium gearbeitet hatte, etliche der von diesem vorgetragenen Entlastungsargumente als wahrheitswidrig darstellte und bilanzierte: „Aufgrund dieses Verhaltens ist es mir einfach unbegreiflich, wenn Schmidt heute den politisch Verfolgten spielt und sich so hinstellt, als ob er mit den Nazis überhaupt nichts zu tun gehabt hätte“.
Eichkorns, Wiebers und einige andere Belastungszeugnisse wurden von der Spruchkammer Karlsruhe durchaus gewürdigt, als sie im September 1948 über Schmidt verhandelte. Zwar wollte sie dem Votum des Öffentlichen Klägers, der Schmidt wegen seiner frühen Parteimitgliedschaft und seiner Parteiämter nach den gesetzlichen Vorgaben in die Gruppe der „Hauptschuldigen“ einordnete, nicht folgen, da seine Parteikarriere nach 1933 doch offensichtlich ins Stocken geraten war – dass Schmidt sich noch 1941 darum bemüht hatte, Oberbürgermeister in Pforzheim zu werden und somit einen wichtigen politischen Posten zu übernehmen, blieb im Übrigen im Spruchkammerverfahren unentdeckt, da die Personalakten der Gauleitung der NSDAP zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich waren. Schmidt zum „Mitläufer“ zu erklären, wie dies in etlichen vergleichbaren Fällen und zumal zu diesem späten Zeitpunkt der Entnazifizierung geschah, sah sich die Spruchkammer aber nicht in der Lage. Dass sie ihn als „Minderbelasteten“ einstufte, lag an den negativen Zeugnissen seiner ehemaligen Kollegen aus dem Kultusministerium und wohl auch maßgeblich an Schmidts Lüge über seinen dienstlichen Status im Jahr 1941. Die Angabe seiner „Suspendierung“ sei „nicht richtig. Der Betroffene war wohl wegen Krankheit ausser Dienst, hat aber sein volles Gehalt bezogen. Politische Gründe scheiden aus“, hieß es in der Begründung des Spruchs, die aber auch die Entlastungszeugnisse würdigte und es für gerechtfertigt hielt, „dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, in einer Probezeit zu beweisen, dass er seine Pflichten als Bürger eines friedlichen demokratischen Staates erfüllen wird“.
Schmidt zeigte sich mit seiner Einstufung als „Minderbelasteter“ unzufrieden und brachte seinen Fall vor die Karlsruher Berufungskammer. In seinem Begründungsschreiben zog Schmidt vor allem die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen in Frage, die er pauschal als „Parteigenossen und S.A.-Mitglieder“ diskreditierte. Die Berufungskammer tat ihre Pflicht und führte am 25. Februar 1949 eine mündliche Verhandlung, bei der auch sämtliche Belastungszeugen gehört wurden. Im Ergebnis bestätigte sie den Spruch vom September des Vorjahres, wobei der Begründung deutlich zu entnehmen ist, dass Schmidt durch den wiederholten Vortrag seiner autobiographischen Legenden die Geduld der Beteiligten bis aufs Äußerste strapaziert hatte: Schmidt sei „nach Überzeugung der Berufungskammer und den gleichen Worten eines Zeugen gekennzeichnet, dass er stets ein verfolgter Nationalsozialist gewesen ist. Vor 1933 und nach 1933, und heute wird er auch als Nationalsozialist verfolgt. Es gibt kaum ein Aktenstück von jemand das in derart dreister Weise Behauptungen aufstellt, dass [er] Nachteile erlitten hätte“. Von der Bewährungsfrist könne nicht abgesehen werden, „da der Betroffene heute noch nicht ganz von dem Nationalsozialismus frei ist“. Erst als diese Frist im Februar 1950 verstrichen war, erlangte Schmidt nach den gesetzlichen Regelungen automatisch den Status eines „Mitläufers“.
Als dieser erreicht war, stellte sich auch die Frage seiner Wiederverwendung im öffentlichen Dienst beziehungsweise seiner Zurruhesetzung. In Anbetracht der Unruhen, die Schmidts Spruchkammerverfahren auch in der Karlsruher Kultusverwaltung verursacht hatte, dürfte es dort mit einiger Erleichterung aufgenommen worden sein, dass Schmidt inzwischen nicht mehr auf seine Rückkehr in den Dienst drängte, sondern ein ärztliches Gutachten vom Januar 1951 vorlegte, das dem 56-jährigen eine ganze Reihe gesundheitlicher Beeinträchtigungen (Bewegungseinschränkung des Schultergelenks, Hüftschaden, chronische Kehlkopfentzündung mit starker Stimmbandschwäche, Herabsetzung des Seh- und Hörvermögens sowie pektanginöse Beschwerden) attestierte, mit denen die Voraussetzungen für eine Zurruhesetzung gegeben seien. Für die Abteilung Kultus und Unterricht beim Präsidenten des Landesbezirks Baden war nun allerdings noch zu klären, auf welcher Grundlage seine Versorgungsbezüge festgesetzt werden sollten.
Die Wiedereinstellungskommission der Karlsruher Kultusabteilung folgte dabei dem vergleichsweise harten Kurs der Spruchkammer und verweigerte Schmidt die volle Pension: Seine Ernennung zum Regierungsrat im Oktober 1933 und seine Beförderung zum Oberregierungsrat im Frühjahr 1934 seien nicht auf besondere dienstliche Leistungen zurückzuführen, „sondern lediglich auf seine Mitgliedschaft und Betätigung in der NSDAP“. Deshalb sei bei der Berechnung von seinen Bezügen als Studienrat – diese Stellung hatte Schmidt vor der nationalsozialistischen Machtübernahme innegehabt – auszugehen. Zu einer namhaften Aufstockung seiner Versorgungbezüge kam es erst acht Jahre später, als das baden-württembergische Kultusministerium den Fall Schmidt erneut prüfte. Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in ähnlichen Fällen kam man nun zu der Einschätzung, „daß bei der Ernennung des Beamten zum Regierungsrat und seiner Berufung ins Bad. Ministerium des Kultus und Unterrichts zwar die enge Verbindung zum NS. eine wesentliche Rolle gespielt hat, nicht aber der überwiegende Grund gewesen ist“. Da man dasselbe auch für die Beförderung zum Oberregierungsrat annahm, kam Schmidt in den Genuss einer deutlichen Anhebung seiner Versorgungsbezüge. Nachdem ihm Spruchkammerverfahren zehn Jahre zuvor die plakative politische Rehabilitierung durch einen raschen Mitläuferbescheid verwehrt worden war, wurde ihm nun mit Verspätung die materielle Rehabilitierung zuteil. Wie Schmidt hierauf reagierte und ob er in späteren Lebensjahren vom Selbstbild eines dreifach verfolgten Nazis abrückte, erschließt sich aus den überlieferten Akten nicht.
Quellen:
GLA 465h 12623, 467-1 1349 (Quellenanhang)
Als ehemalige (1994-2012) Schulleiterin der Heinrich-Lanz-Schule II Mannheim (vormals Gewerbeschule II/IV) und als Verfasserin einer Schulchronik für die Jahre 1959 (Neubau) bis 2009 arbeite ich zurzeit privat an einer Darstellung der Gewerbeschulen in den Jahre 1933-1945. Im Fokus sollen dabei die den Nationalsozialismus exekutierenden Schulleitungen stehen, aber auch die Verfolgung jüdischer Schüler und Lehrer sowie eventuelle Widerstandsaktionen, ziviler Ungehorsam.
Ich bin bei meinen Recherchen im Internet heute auf diese Seite gestoßen und bin sehr interessiert.
Falls es wissenschaftliche Arbeiten (Magister-, evtl. auch Dissertationen) zum Thema NS-Zeit/Gewerbeschulen/Mannheim gäbe, wäre ich für Hinweise sehr dankbar.