https://ns-ministerien-bw.de/wp-content/themes/nslmbw

Der Ministerialrat Herbert Kraft und das französische Auto. Verwaltungspraxis in Karlsruhe und Straßburg zwischen „totalem Krieg“ und profaner Klüngelei

Im Frühjahr 1933 ins Amt gekommen war Herbert Kraft (1886–1946) als Ministerialrat und Abteilungsleiter für Höhere Schulen im badischen Kultusministerium mit weitgehenden gestalterischen Befugnissen beim Umbau der Landesschulverwaltung nach nationalsozialistischen Vorstellungen ausgestattet. Kraft hatte vor der Machtübernahme für die NSDAP im Badischen Landtag gesessen und von dort den demokratischen Staat, von dem er als Gymnasiallehrer gleichzeitig sein Gehalt bezog, wort- und tatkräftig bekämpft. Insofern verdeutlicht sein Aufstieg, dass die nationalsozialistische Personalpolitik in der südwestdeutschen Landesbürokratie neben allen signifikanten Kontinuitäten von Beamtenkarrieren und Akten individueller Anpassungen an das neue Regime auch auf das Mittel rigoroser „Säuberungen“ zurückgriff, unliebsame Beamte verdrängte und altgediente Parteigenossen an den Schaltstellen der administrativen Macht platzierte. Folgerichtig ist von Kraft auf diesen Seiten schon an anderer Stelle die Rede gewesen.

Seit kurzem findet sich auf dem Online-Portal unter der Rubrik „Fremde Federn“ auch eine umfassende Arbeit zur politischen Biographie Herbert Krafts. Diese bietet Stoff für so manche Anekdote: So berichtet auch der folgende Beitrag von einem vordergründig amüsanten Vorgang um Kraft, dem aber als Schlaglicht auf Grundprobleme einer Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus im regionalen Kontext durchaus ein Erkenntnispotential zukommt.

Herbert Kraft (GLA 231 Nr. 2937 (982)) | Klicken zum Vergrößern

Der Beginn des Krieges 1939 markierte für den einstigen Frontoffizier und inzwischen zum Hauptmann der Reserve der Luftwaffe aufgestiegenen Kraft keine tiefe Erfahrungszäsur. Dies lag vor allem an der „UK-Stellung“, der Unabkömmlichkeit an seinem Arbeitsplatz, die Kraft von seinen Dienstherren während der Dauer des Zweiten Weltkrieges immer wieder bescheinigt bekam. Auf eine andere Weise aber wirkten sich die Folgen des Krieges doch auf Krafts unmittelbare Lebensrealität aus. Als nach der Annexion des Elsass im Sommer 1940 der badische Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner zum Chef der Zivilverwaltung im Elsass (CdZ) ernannt wurde, zeichnete dies die badisch-elsässische Personalunion auf der Ebene der Landesregierung und ihrer Verwaltung vor. Unter bis zum Ende des „Dritten Reichs“ ungeklärtem staatsrechtlichen Status besorgten die badischen Behörden de facto die Verwaltungsaufgaben im Elsass. Die Ministerien wurden dem Chef der Zivilverwaltung als Abteilungen unterstellt. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des badischen Kultusministeriums waren die mit der neuen Situation einhergehenden Änderungen dabei besonders einschneidend, da für sie mit der Annexion nicht nur ein Machtzuwachs verbunden war, sondern die gesamte Behörde nach Straßburg umzuziehen hatte, um den Anschluss des neu gewonnen Territoriums symbolisch zu untermauern.

Kraft, nun auch Ministerialrat beim CdZ in der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung, pendelte zunächst noch einige Zeit zwischen seinem Wohnort Karlsruhe und seiner neuen Wirkungsstätte Straßburg. Um den Jahreswechsel 1941/42 wurde er bei einer der dabei anfallenden Autofahrten auf dem Weg nach Karlsruhe kurz hinter der Rheingrenze in Rheinbischofsheim in einen Verkehrsunfall verwickelt. Im zuständigen Landratsamt Kehl wurde daraufhin eine Mitschuld Krafts festgestellt und eine Strafe von 20 RM oder vier Tagen Haft verhängt. Verkehrsdelikte, die mit Geldstrafen von mindestens 20 RM sanktioniert wurden, zogen damals einen Eintrag in den Führerschein nach sich.

Stellte die Zahlung der Geldbuße für den wohlsituierten Staatsbeamten offenbar kein größeres Problem dar, wehrte sich der im Milieu des wilhelminischen Bürgertums sozialisierte, auf Werte wie Anstand und Ehre fixierte Kraft vehement gegen den nach eigenem Befinden wohl rufschädigenden Führerscheineintrag, der ihn als Verkehrssünder gebrandmarkt hätte.

Deshalb suchte Kraft, nachdem er die Angelegenheit einige Monate lang ignoriert hatte, im Januar 1943, als Reaktion auf eine verschärfte Intervention des Karlsruher Polizeipräsidenten bei Krafts Vorgesetztem, Kultusminister Schmitthenner, Hilfe bei dessen Kabinettskollegen, dem badischen Innenminister Karl Pflaumer, den er bat, „den Herrn Polizeipräsidenten anzuweisen, von einem Eintrag in meinen Führerschein abzusehen“.

Im gleichen Schreiben schilderte Kraft den etwa ein Jahr zurückliegenden Unfall aus seiner Sicht und argumentierte für seine Unschuld. Kraft erzählte von Baumaßnahmen, die von Arbeitern in einer Kurve ohne Warnschild durchgeführt worden seien. So überrascht habe Kraft plötzlich ausweichen müssen und sei dabei auf die Schienen der Straßenbahn geraten. Als er den heranfahrenden Zug sah, habe er sofort angehalten und zurücksetzen wollen. Jedoch habe er es nicht geschafft, den Rückwärtsgang einzulegen. Dann sei der Zusammenprall erfolgt.

In Krafts Narration lag die Schuld nun vor allem bei den „Strassenarbeitern“, die keine „Warnungstafel“ aufgestellt hatten. In zweiter Linie trage auch der Zugführer Verantwortung, „der nicht hielt, sondern einfach auf meinen Wagen auffuhr“. Soweit decken sich Krafts Darstellung und das Urteil des Kehler Landratsamtes noch. Dieses machte jedoch darüber hinaus auch ein Fehlverhalten Krafts aus, weil dieser nicht rechtzeitig zurückgefahren, sondern auf den Bahnschienen stehengeblieben war. Kraft erklärte sein Verharren auf den Schienen folgendermaßen: „Ich hielt meinen Wagen sofort an, konnte aber nicht rechtzeitig zurückfahren, da die Schaltung an diesen Wagen französischen Fabrikats viel komplizierter ist, als bei deutschen Wagen“. Eine Herabsetzung französischer Automobilhersteller, die von Kraft nicht weiter erläutert wurde; er führte sie auf wie man Banalitäten benennen würde. So verstieg sich Kraft kurz darauf sogar zu der Aussage, dass nur ein „Beamter“, der „von autotechnischen Dingen […] keine Ahnung“ habe, die Tatsache der Leistungsschwäche französischer Autos übersehen könne.

Die einige Wochen später verfasste, knapp gehaltene Antwort des Innenministers beendete die Causa bald. Pflaumer zog sich auf „verbindliche Anweisungen des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“ zurück und bedauerte, dass „Ausnahmen […] nicht zugelassen“ seien. Dem fügte sich Kraft und reichte daraufhin seinen Führerschein bei der Polizeibehörde ein.

Karl Pflaumer, 1934 (Bundesarchiv, Bild 146-2007-0027 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons) | Klicken zum Vergrößern

Ohne dass es der losgelöste Blick auf diesen Einzelfall zuließe, generalisierende Befunde zu abstrahieren, lassen sich an die Geschichte von Krafts Autounfall, seinem Protektionswunsch an Pflaumer und seiner dazu eingeschlagenen argumentativen Strategie in bürokratiegeschichtlicher Perspektive verschiedene Fragen stellen.

Bis zu welchem Grade rechtsstaatliche Normen auch im nationalsozialistischen Unrechtsstaat bindend blieben, in welchen Fällen selbst höhere Parteigenossen dem Recht doch Untertan waren und in welchen Grenzen Vetternwirtschaft und Klüngelei sich vollziehen konnten, ist noch nicht zusammenhängend untersucht worden. Pflaumer zumindest hatte in diesem Fall entweder kein Interesse oder ihm fehlte die strukturelle Handlungsmacht, Kraft zu protegieren. Doch nicht nur, dass Pflaumer hier anscheinend Rechtsempfinden über die Begünstigung eines Parteifreundes stellte und Kraft, der zu dieser Zeit in imperialer Pose durch Frankreich zog und mit führenden Vertretern des französischen Staates verhandelnd die Beschlagnahmung elsässischer Kulturgüter verantwortete, in heimischen Gefilden keineswegs Narrenfreiheit genoss; aufschlussreich im Hinblick auf die Funktionsweise von Nepotismus im  NS-Verwaltungssystem ist auch, wie Kraft sein Hilfsgesuch begründete. Er verwies nicht etwa auf seine bloße Parteizugehörigkeit oder seine Meriten als „Alter Kämpfer“ der Bewegung. Vielmehr schien Kraft, der die administrativen Abläufe gut kannte, klar gewesen zu sein, dass die parteiwirtschaftliche Bevorzugung durch rationale Gründe zumindest drapiert sein musste. Deshalb argumentierte Kraft sachlich für seine Schuldlosigkeit. Kraft verband dabei die sachliche Behauptung der angeblichen „technisch[en] [U]nmöglich[keit]“ des Rückwärtsfahrens mit dem unterschwelligen Hinweis auf seine beim Adressaten vermutlich populäre frankreichfeindliche Grundhaltung und somit auf seine politische Zuverlässigkeit. Neben einem Verständnis für die Bedeutung des Anliegens und persönlicher Sympathie – beides empfand Pflaumer möglicherweise Kraft und seinem Schutzgesuch gegenüber nicht in ausreichendem Maße – war sachliche Plausibilität anscheinend eine Grundbedingung selbst nationalsozialistischer Patronage, die wenigstens als Anstrich erforderlich blieb. Der Appell an politische Linientreue und parteiinternen Status konnte die eigenen Chancen zusätzlich verbessern.

Eine Kontextualisierung der Ereignisse öffnet eine weitere Dimension: Zwischen Krafts Rechtfertigungsschrift und Pflaumers Antwort musste das Deutsche Reich die erste große militärische Niederlage des Krieges hinnehmen. Nahezu die gesamte 6. Armee der Wehrmacht wurde in Stalingrad vernichtet. Nur zwei Tage nach Pflaumers Hilfsverweigerung rief Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seiner berüchtigten „Sportpalastrede“ in Berlin die deutsche Bevölkerung zum „totalen Krieg“ auf. Der beschriebene Unfall von Rheinbischofsheim und der auf ihn folgende Papierkrieg fielen also überein mit einer Phase, in der sich das Kriegsglück zu Deutschlands Ungunsten zu wenden begann und die nationalsozialistische Führung die Kriegsführung noch einmal drastisch verschärfte. Der Krieg, der für die deutsche Zivilbevölkerung bis dahin einem Siegeszug durch Europa gleichgekommen war, griff von nun an stärker auf alle denkbaren Lebensbereiche zu und drückte zunehmend auf den Alltag der Menschen. Auch die Umzugsanordnung des Reichsstatthalters Wagner an alle „noch in Karlsruhe wohnhaften, jedoch im Elsass voll beschäftigten Angehörigen badischer Dienststellen“, welche die „durch den Luftangriff noch gesteigerte[n] Wohnungsnot“ in der badischen Hauptstadt abmildern sollte, und aufgrund derer Kraft im Herbst 1942 auch persönlich nach Straßburg übersiedelte, belegt dies.

Welche Folgen aber zeitigte diese zunächst militär- und dann mittelbar gesellschaftshistorische Entwicklung im Hinblick auf das Funktionieren und alltägliche Arbeitsabläufe der badischen Verwaltung? Inwiefern beeinflusste der vielzitierte „totale Krieg“ mit seinem allumfassenden Geltungsanspruch die vielbeschworene Effizienz des deutschen Berufsbeamtentums?

Dass die doch sehr nebensächliche Angelegenheit von maximal persönlicher Bedeutung des Führerscheineintrags nicht nur über Wochen hinweg Bürokraten verschiedenster badischer Behörden beschäftigte, sondern die einzelnen Dokumente gar penibel archiviert wurden, spricht jedenfalls gegen die zunächst naheliegende Überlegung, dass der „totale“ Weltkrieg einen großen Einfluss auf die Arbeitsweise der badischen Ministerialbürokratie hatte und deren Personal durch kriegsrelevante Tätigkeiten präokkupiert gewesen wäre. Vielmehr setzten Landratsamt und Polizei – letztere sogar in Person ihres Präsidenten – das geltende Recht auf konsequente Weise und gegen Widerstände – also unter Ressourcenaufwand – durch, obwohl von dem thematisierten Fall wohl kaum Existenz und Fortbestand des deutschen Volkes abhingen. Die klare Priorisierung des Krieges als oberstem Staatsziel durch die Reichsregierung scheint die Normen und das Handeln der badischen Bürokratie also nicht nachhaltig transformiert zu haben. Auch Kraft selbst scheint die volle Fokussierung aller „Volksteile“ auf den Krieg nicht verinnerlicht zu haben, wenn er seine Kolleginnen und Kollegen aus niederen, egoistischen Beweggründen mit seinen Sonderwünschen behelligte.

Charakteristisch für die Landesbürokratien im NS-Staat ist zuletzt der Verweis auf die Reichsebene in Pflaumers ablehnender Stellungnahme, der im regionalen Verwaltungsschrifttum der Zeit immer wieder auftaucht. Zwar spiegelt er einerseits den tatsächlichen verfassungspolitischen Wandel im Hinblick auf die vertikale Machtverteilung im Deutschen Reich wider, wurden doch die Länder im Zuge des „Gleichschaltungsprozesses“ schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ihrer Hoheitsrechte beraubt. In der Verfassungswirklichkeit jedoch behielten die „nazifizierten“ Landesregierungen zahlreiche Kompetenzen und Handlungsfreiheiten. Jenseits von Pflaumers Verhalten in Krafts Führerscheinaffäre bot die Prärogative der Reichszentrale insofern vielen regionalen Amtsträgern auch eine willkommene Gelegenheit, die Einengung des eigenen Handlungsspielraums durch Berlin zu übertreiben, um sich bei unbequemen Entscheidungen aus der Verantwortung zu stehlen.

Quelle: StAF F 110/1, 781.

Print Friendly, PDF & Email

Hinterlassen Sie einen Kommentar