„Ich hoffe, dass sie Ihnen noch nützlich sein kann“ – Wie der Justizminister Josef Beyerle nach 1945 für seine ehemaligen Kollegen eintrat
Ein besonders spannender Fall in der württembergischen Justizgeschichte ist die Person Josef Beyerle (1881-1963). Beyerle, Zentrumspolitiker, in der Weimarer Zeit enger Vertrauter von Eugen Bolz und nach 1945 Mitbegründer der württembergischen CDU, war zwischen 1923 und 1933 Justizminister Württembergs und wurde unmittelbar nach Kriegsende abermals von den Alliierten mit der Leitung des Justizressorts im neu gegründeten Land Württemberg-Baden betraut (1945-1951). Diese Konstellation einer zweimaligen Ressortführung vor 1933 und nach 1945 ist eine Besonderheit und hat für die Erforschung des Justizministeriums eine große Bedeutung. Im März 1933 wurde Beyerle von den Nationalsozialisten in den „Wartestand“ versetzt und erhielt – auf eigenes Ansuchen – ab Januar 1934 einen Richterposten im Zivilsenat am Landgericht Stuttgart. Über Beyerles Handeln als Richter in dieser Zeit existieren zwar kaum Quellen – er scheint in keiner Beziehung aufgefallen zu sein: Seine Vorgesetzten schätzten ihn fachlich, aber auch in der politischen Haltung zum „neuen Staat“ durchweg positiv ein. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der ehemalige Justizminister des Landes der NSDAP kritisch gegenüber stand, wie Schriften und Redebeiträge aus den Jahren vor 1933 zeigen. Auch standen er und seine Familie unter scharfer Beobachtung der Nationalsozialisten, wie eine Wohnungsdurchsuchung durch die Gestapo im Jahr 1937 verdeutlicht.
Die Wahrnehmung des Handelns und Wirkens der Person Beyerle in der Zeit des NS-Regimes wurde nach 1945 maßgeblich durch seine Zeitgenossen der württembergischen und bundesdeutschen Politik geprägt: In seiner Charakterfestigkeit und besonders besonnenen und zurückhaltenden Persönlichkeit sah man in dem bekennenden Katholiken einen Oppositionspolitiker ersten Ranges, metaphorisch umschrieben von Reinhold Maier als „gutes Gewissen des Landes“. Man meinte in Beyerle gar den „Gerechtesten unter den Gerechten“ zu erkennen. Diese ins kollektive Gedächtnis eingegangene Glorifizierung der Person Beyerle mag sicherlich mit den außer Zweifel stehenden Verdiensten im zweimaligen Aufbau der Landesjustiz sowie mit seiner Federführung in der Parteiarbeit zusammenhängen und dort seine Berechtigung finden.
Bei der Erforschung der Personalpolitik des Württembergischen Justizministeriums zeigt sich die Person Beyerle als Akteur besonders nach 1945 aber aus einer anderen Perspektive: Die in der Überschrift zitierte Zeile entstammt einer Antwort Beyerles an Robert Roth, der den Justizminister um einen „Persilschein“ im Zuge seines Spruchkammerverfahrens ersuchte – als ehemaliger Ministerialdirektor in exponierter Stellung unmittelbar hinter den NS-Ministern Christian Mergenthaler und Jonathan Schmid galt Roth in alliierter Perspektive als „Hauptschuldiger“. Roth war seit 1923 im Justizressort und stieg dort unter Beyerle bis zum Ministerialrat auf. Zwischen 1933-1935 trat er im Ministerium unter anderem im Kontext der „Justizverreichlichung“ hervor. Mit der abgeschlossenen Justizüberleitung Ende März 1935 ging Roth in den vorzeitigen Ruhestand und lehnte eine Beförderung zum Oberlandesgerichtspräsidenten ab, wie dies nicht nur durch die Spruchkammerakten ersichtlich wird, sondern sich auch in internen Akten aus dem Justizministerium darstellt. Beyerle unterstützte seinen ehemaligen Weggefährten Roth, der in seinen Augen trotz seines NSDAP-Beitritts als „Märzgefallener“ im Jahr 1933 zweifellos ein befähigter Fachbeamter und keinesfalls lediglich ein Nutznießer der nationalsozialistischen Machtübernahme war, „natürlich gerne“ und stellte ein Schreiben aus: Der Ministerialrat wäre seinerzeit ein Beamter von „ausgezeichneter Befähigung und Erfahrung“ gewesen, seine Dienste – auch über 1933 hinaus – habe Beyerle „aufs wärmste begrüsst“, habe er darin doch einen „Schutz der Rechtspflege gegen die vom Nationalsozialismus drohenden Gefahren“ erkannt. Schließlich hätte Roth unter den „Schwierigkeiten zu leiden [gehabt], die aus der Gegensätzlichkeit seiner inneren Einstellung und der Bestrebung der nationalsozialistischen Rechtspolitik erwuchsen“. Beyerle hatte lange mit Robert Roth zusammengearbeitet und schätzte dessen fachliche Fähigkeiten – aber Roth war eben auch einer der vielen Beamten aus der Justizverwaltung, die ihre Expertise in den Dienst der Nationalsozialisten stellten und damit zur Umsetzung nationalsozialistischer Prinzipien bis in die lokale Justizpraxis beitrugen, und teils auch aktiv den Zielen des „Dritten Reiches“ zuarbeiteten. Zeitgenössisch jedoch spielten solche Argumente keine Rolle. Die Spruchkammer stufte Roth schließlich 1947 als „Mitläufer“ ein.
Es ließen sich weit mehr Beispiele für Josef Beyerles Fürsprachen ehemaliger Justizbeamter hier aufführen: Zahlreiche seiner ehemaligen Untergebenen im Ministerium, später im NS-Regime teils wiederum Vorgesetzte, wie beispielsweise Otto Küstner, der lange Zeit im Justizministerium tätig war, ab 1935 zum Oberlandesgerichtspräsidenten befördert wurde und damit neben dem Generalstaatsanwalt das höchste Amt als Vertreter der Reichsjustiz in Württemberg innehatte, traten im Zuge ihrer Spruchkammerverfahren, aber auch mit Ansuchen um Befürwortungen bei Wiedereinstellungsverfahren bzw. Ruhegehaltsverhandlungen an Beyerle heran und baten um Unterstützung. In so gut wie allen Fällen war der Justizminister in irgendeiner Form der Hilfestellung bereit, für die Bittsteller überaus günstige Worte zu finden, die durchaus Auswirkungen auf die Spruchkammerentscheidungen haben sollten.
Die Frage, was Beyerle zu dieser auffälligen Praxis der Fürsprache für seine ehemaligen Kollegen bewegte, wird je nach individuellem Fall unterschiedlich zu beantworten sein und seine Motivationen lassen sich anhand der Akten nicht erschließen. Die besondere Konstellation seiner zweimaligen Ministerzeit dürfte aber damit zusammenhängen: Es waren häufig Kollegen, die er ins Ministerium geholt hatte und aus langjähriger Zusammenarbeit kannte, für die er nach 1945 gutachtete. Vielleicht fühlte er sich ihnen seit dieser Zeit verbunden, wollte deshalb in dieser Form loyal Unterstützung leisten und handelte aus einem Verständnis einer Beamtensolidarität. Vielleicht sah er die fachlichen Qualitäten dieser Personen und fürchtete Verluste für die Nachkriegsjustiz. In den Neubesetzungsvorschlägen für das Landesjustizministerium 1945/1946 griff er auf zahlreiche Angestellte und BeamtInnen mit Karrieren in der Verwaltung vor 1945 zurück und argumentierte im Zweifelsfall gegenüber der US-amerikanischen Militärregierung zumeist mit deren fachlichen Expertise, die für eine funktionierende Justiz unverzichtbar sei. Hinzu kam vermutlich nicht selten eine freundschaftliche Beziehung. Vielleicht war auch sein katholisches Werteverständnis eine grundlegende Bewertungskategorie: Offenbar hegte er jedenfalls keinen Groll gegen die ehemaligen Weggefährten, von denen so mancher ihn zwischen 1933 und 1945 überflügelt hatte. Alternativ hätte Beyerle nach 1945 „ungünstige“ Bewertungen ausstellen können oder zumindest auf die Bittsteller nicht reagieren müssen. In seinem Handeln verantwortete er schließlich eine Atmosphäre der Amnestie mit, die sich an vielen Stellen in der noch jungen Bundesrepublik zeigte und für viele NS-belastete Justizbeamte frühzeitig den Weg zurück in den Verwaltungsdienst ebnen sollte.
Quellen: Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA4-150 Bü 959, EA4-150 Bü 97, Q1-1 Bü 33