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Im Schatten der nationalsozialistischen „Euthanasie“? Die Karriere der elsässischen Regierungssekretärin Gertrud Erna Wolff

Ein Teil unseres Forschungsprojekts widmet sich der nationalsozialistischen Herrschaft im Elsass, die vornehmlich aus dem angrenzenden Baden durch die dortigen Landesministerien organisiert wurde. In einem Hauptseminar, das Prof. Sylvia Paleletschek und Dr. Marie Muschalek im Wintersemester 2016/17 anboten, beschäftigten sich Studierende der Universität Freiburg mit dieser Grenzgeschichte. Der folgende Beitrag ist Teil einer Reihe von Artikeln, die im Rahmen des Seminars entstanden sind.

Gertrud Erna Wolff wurde am 15. Juli 1896 in Straßburg als Tochter des Oberpostsekretärs Albert Wolff geboren. In dem evangelischen, bürgerlich geprägten Haushalt sah man sich selbst als „preußische Staatsangehörige“. Vermutlich als „Altdeutsche“ in der Reichslandzeit ins Elsass gekommen, gehörte die Familie Wolff 1918 zu jenen Deutschen, die das Elsass verlassen mussten, als es wieder in den französischen Staat eingegliedert wurde. Die zehnköpfige Familie musste dabei laut Selbstaussage mehrere Häuser in Straßburg zurücklassen.

Gertrud Wolff, ca. 1935 (GLA Karlsruhe 466-2 Nr. 11147) | Klicken zum Vergrößern

Nachdem Gertrud Wolff die mittlere Reife abgeschlossen hatte, besuchte sie die Handelsschule und nahm erste Tätigkeiten in verschiedenen Firmen hauptsächlich im Raum Rastatt an. Als Büro- und Schreibkraft erlernte sie das Schreibmaschinenschreiben – zu dieser Zeit eine gesuchte Qualifikation, um Diktate „schnell in fehlerfreier Sprache in Maschinenschrift zu übertragen.“ Als „Maschinenschreiberin“ trat sie zunächst 1922 beim Bezirksamt Rastatt in den öffentlichen Dienst ein, in dem sie auch bis 1934 verblieb.

Als im selben Jahr in Rastatt eine neue Pflegeanstalt im ehemaligen Garnisonslazarett errichtet wurde, bewarb sich Gertrud Wolff dort aus eigenem Antrieb um eine Stelle. Ihr Vater sei frisch verstorben und sie wolle diesen Einschnitt nutzen, um den schon lange gehegten Wunsch nach „mehr Selbständigkeit und Abwechslung“, weg von „Schreibmaschinenarbeiten und [der] Aufnahme von Stenogrammen“, umzusetzen. Unter dem für einen rigiden Sparkurs auf Kosten der Insassen berüchtigten Anstaltsleiter Dr. Arthur Schreck nahm Gertrud Wolff im Frühjahr 1934 ihre Karriere in Heil- und Pflegeanstalten – Rastatt sollte nicht die einzige bleiben – zunächst als „Kanzleigehilfin“ auf. Schreck war nicht nur ein willfähriger und überzeugter Gutachter über Leben und Tod bei der sogenannten „Aktion T4“ der Nationalsozialisten, dem organisierten Töten von körperlich und geistig behinderten Menschen sowie psychisch Auffälligen in den Jahren 1940 bis 1941. Auch war die Pflegeanstalt Rastatt dafür bekannt, auf Kosten der Lebens- und Versorgungsbedingungen der Bewohner besonders kostensparend zu arbeiten. So sollen die Räume stark überfüllt, Essensrationen knapp und Therapieangebote kaum vorhanden gewesen sein. Als reine „Verwahranstalt“ konzipiert, bemängelte Schreck abfällig, er erhalte „an Krankenmaterial fast nur Ausschuss“. 1948 wurde Schreck wegen seiner Beteiligung an „Euthanasie“-Verbrechen zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er aber wie so viele Verurteile nur einen Bruchteil absitzen musste.

Wie andere badische Heil- und Pflegeanstalten war auch Rastatt ab Ende 1939 von diesen „planwirtschaftlichen Maßnahmen“ – eine euphemistische Umschreibung der „Aktion T4“ – betroffen. Sie wurde Anfang 1940 „aufgelöst“ und ihre Bewohner „in eine andere Anstalt verlegt“. Diese harmlos klingenden Umschreibungen bedeuteten für viele der Heiminsassen  die Verbringung in die Tötungsanstalt im ehemaligen Jagdschloss Grafeneck bei Stuttgart und den Tod unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Schloss Grafeneck (von –Xocolatl 20:57, 6 September 2007 (UTC) – Eigenes Werk, Gemeinfrei, httpss://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2693514) | Klicken zum Vergrößern

Gertrud Wolff war dabei sicherlich nicht eigenhändig an der beschönigend als „Euthanasie“ bezeichneten Tötung „lebensunwerten Lebens“ beteiligt. Doch war sie als Rädchen im Getriebe als Büro-, später als Wirtschaftskraft, sicherlich Mitwisserin. Nach der Auflösung der Rastatter Anstalt – in der Folge auch in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, später noch in Wiesloch – war sie damit beschäftigt, die „administrative Auflösung“ zu übernehmen. Ihre Aufgabe war es, übrig gebliebenes Inventar zu sichten, offen gebliebene Rechnungen abzuwickeln sowie Verwaltungsvorgänge, die mit Auflösung der Anstalt verbunden waren, zu regeln. Bezahlt wurde sie von der sogenannten „Abwickelungsstelle“ in Wiesloch.

Ein Blick auf ihren Werdegang ist notwendig, um ihre daran anschließende Zeit im Elsass zu verstehen, denn auch dort war Gertrud Wolff im Gesundheitswesen beschäftigt. In den Heil- und Pflegeanstalten hatte sie bis dahin erfolgreich eine Karriere von der „Kanzleigehilfin“ über „Kanzlistin“ zur  „Obere[n] Wirtschaftsbeamtin“ durchlaufen – was für sie eine Verbeamtung zunächst auf Zeit, dann auf Lebenszeit sowie einen Aufstieg um insgesamt zwei Besoldungsstufen auf A8a bedeutete. Der NSDAP trat Gertrud Wolff schon 1937, nachdem die Partei ihren Aufnahmestopp beendet hatte, bei.

Im November 1940 bat Gertrud Wolff dann um eine Versetzung nach Straßburg. Wieder ging die Initiative von ihr aus, sie argumentierte explizit mit dem Wunsch, „in die Heimat zurückzukehren“, in der ihre „Eltern […] fast 40 Jahre gelebt haben.“ Erst nach Beendigung aller Abwickelungsarbeiten wurde ihrem Antrag stattgegeben. Ab dem 1. November 1941 trat sie beim Chef der Zivilverwaltung im Elsass ihren Dienst in der Abteilung Gesundheitswesen an, auch hier wieder als Obere Wirtschaftsbeamtin. Als sogenannte „Altdeutsche“, die vor 1918 im Elsass gelebt hatte, kam sie für die Deutschen prinzipiell auch für mittlere Verwaltungsaufgaben in Frage.

Gertrud Wolff, nach 1945 (StAF 30.1 2223) | Klicken zum Vergrößern

Blickt man auf Gertrud Wolffs Lebensweg in der Nachkriegszeit, so ist den wenigen Angaben in den überlieferten Spruchkammerakten zu entnehmen, dass sie zunächst degradiert und auf Bewährung verurteilt wurde. Nach einer „Revision von Amts wegen“ konnte sie allerdings 1949 ihre Säuberungsbescheinigung als „Mitläuferin“ ausgestellt bekommen. Kurz nach Kriegsende fand sie bereits wieder Arbeit im Landratsamt Lörrach, auch hier als Regierungssekretärin. Ungebrochen war sie – wohl aufgrund ihrer Expertise – wieder für das Gesundheitswesen zuständig, zu dessen Aufgabenfeldern abermals die „Irrenfürsorge“ gehörte. 1957 konnte sie ihre Karriere sogar mit einer Beförderung zur „Regierungsobersekretärin“ fortsetzen, gegen die der „Personalrat […] keinerlei Bedenken“ hatte. Bereits im Folgejahr trat sie dann – 62-jährig – ihren Ruhestand an. Was sie nach ihrer Berufszeit tat und wo sie schließlich verstarb – darüber geben ihre Beschäftigungs- und auch Entnazifizierungsakten keine Auskunft. Mit etwas Glück könnten derlei Angaben im Stadtarchiv Lörrach noch zu ermitteln sein.

Taucht man wie bei Frau Wolff in den Werdegang einer Frau im Nationalsozialismus ein, so verdeutlichen sich die Zwänge, denen sie unterlag. Gleichzeitig können aber auch Handlungsspielräume und insbesondere bei ihr Eigeninitiativen ausgemacht werden. An Gertrud Wolffs relativ ungebrochener Karriere über 1945 hinaus kann man – wie in vielen Bereichen der deutschen Gesellschaft – Kontinuitäten ausmachen. Obwohl das Gesundheitswesen ein durch den Nationalsozialismus besonders belasteter Bereich war, wurde Personal in die Nachkriegszeit übernommen und auch die Zuständigkeiten für Heil- und Pflegeanstalten beibehalten. Es wäre spannend, zu untersuchen, ob mit diesen personelle Kontinuitäten auch spezifische Verwaltungspraktiken des Nationalsozialismus überlebten und wie sich die Verwaltung der badischen Heil- und Pflegeanstalten nach 1945 weiter entwickelte.

Quelle: GLA, 466-2, Nr. 11147; StAF, F 30.1, Nr. 2223 (Auszüge).

 

Verwendete Quellen

Archives Départementales Bas-Rhin (ADBR), 127 AL 1475.

ADBR, 126 AL 123, „Medizinalwesen Irrenfürsorge“, darin „Medizinalwesen der Irrenfürsorge. Allgemeines, Verordnungen etc.“.

GLA, 466-2, Nr. 11147.

StAF, D 180.2, Nr. 12374.

StAF, F 30.1, Nr. 2223.

Verwendete und weiterführende Literatur

Zu den Prozessen gegen Dr. Schreck und Dr. Sprauer liegen digitalisiert einsehbare Quellen beim Staatsarchiv Freiburg vor, beispielsweise unter URL: httpss://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/bild_zoom/zoom.php?bestand=8010&id=168261&gewaehlteSeite=05_0000022475_0001_5-22475-1.jpg&screenbreite=1366&screenhoehe=768 [05.01.17].

Aly, Götz: Die Belasteten. ‚Euthanasie‘ 1939 – 1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013.

Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980 (= Moderne Zeit XX), Göttingen 2010.

Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993.

Habay, Murielle/Herberich-Marx, Geneviève/Raphael, Freddy: L’identité – stigmate. L’extermination de malades mentaux et d’asociaux alsaciens durant la seconde guerre mondiale, in: Revue des Sciences Sociales de la France de l’Est 18 (1990/91), S. 38 – 62.

Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983 [Die doch schon etwas ältere Untersuchung ist als durchaus gründlich einzuschätzen und wird in der Forschung bis heute noch als Standardwerk gehandhabt].

Klee, Ernst: Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt a. M. 1986.

Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Grafeneck 1940. „Wohin bringt ihr uns?“. NS-„Euthanasie“ im deutschen Südwesten. Geschichte, Quellen, Arbeitsblätter, Stuttgart 2011. [Online erreichbar unter URL: https://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/bausteine_materialien/material_grafeneck2011.pdf] [04.01.17].

Rüter, C./Mildt, D.: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. IV, Verfahren Nr. 191 – 224 (1949 – 1950) [Online erreichbar unter URL: https://www1.jur.uva.nl/junsv/brd/Angeklagtenfr.htm] [04.01.17].  In der Namensliste: Schreck, Arthur.

Stöckle, Thomas: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002.

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