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„Wenn ich durchs Dorf lief, hörte ich ‚Lueg do, d‘r Ditsche!’“ – Kindheitserinnerungen von Heiko Heitmann an zwei Jahre im besetzten Elsass

Ein Teil unseres Forschungsprojekts widmet sich der nationalsozialistischen Herrschaft im Elsass, die vornehmlich aus dem angrenzenden Baden durch die dortigen Landesministerien organisiert wurde. In einem Hauptseminar, das Prof. Sylvia Paleletschek und Dr. Marie Muschalek im Wintersemester 2016/17 anboten, beschäftigten sich Studierende der Universität Freiburg mit dieser Grenzgeschichte. Der folgende Beitrag ist Teil einer Reihe von Artikeln, die im Rahmen des Seminars entstanden sind.

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Im Dezember 2016 erzählt mein Großvater, Heiko Heitmann (geb. 1931), von den zwei Jahren seiner Kindheit, die er im Elsass verbrachte. Sie liegen zu dem Zeitpunkt bereits über 70 Jahre zurück. Die Geschichte, die mithilfe seiner Erinnerungen entsteht, ist somit ein Kindheitsbericht mit erheblicher Distanz zum Geschehen. Es ist nicht der Hitlerjunge, der berichtet, sondern der 85-Jährige, der die BRD seit ihrer Geburtsstunde miterlebt und ihre Geschichtsschreibung aufmerksam verfolgt hat. Heiko Heitmanns Geschichte ist geprägt von Fremdheitserfahrung und Misstrauen unter den Menschen. Doch auch wenn er als zugezogenes deutsches Kind im elsässischen Dorf und unter den Gleichaltrigen einen Sonderstatus innehatte, ist es die Geschichte einer glücklichen Kindheit.

Heiko, Gerta und Christian Heitmann, eine Bekannte aus Saarbrücken, Claude Imbach (Foto: privat) | Klicken zum Vergrößern

1942 zieht die Familie Heitmann nach Alt-Thann (frz. Vieux-Thann) im Elsass. Zu dem Zeitpunkt sind bereits zahlreiche Maßnahmen zur sogenannten „Germanisierung“ umgesetzt. Auflagen, Verbote und Erniedrigungen wie zum Beispiel die „Verordnung zum Tragen der Franzosenmützen im Elsaß“, die das Tragen von Baskenmützen unter Strafe stellt  , sind Heiko als Kind zwar bekannt, im Vergleich zu Berichten gleichaltriger Elsässer – wie beispielsweise denen des elsässischen Karikaturisten Tomi Ungerer – spielen sie aber eine untergeordnete Rolle. Zur Erinnerung an ein Klima der Angst und gegenseitige Missgunst gesellt sich in Heikos Berichten auch ein Gefühl von Nostalgie. Trotz der besonderen Umstände empfindet er seine Zeit im Elsass als schön und als aufregend.

Als sein Vater, Christian Heitmann, 1941 eingezogen wird, ist Heiko zehn Jahre alt. Über die kurzen Stationen Gelnhausen und Caen kommt Christian 1942 als Obergefreiter nach Thann im Elsass, wo er unter Oberstleutnant Rützler für das Wehrbezirkskommando arbeitet, das eingezogene Soldaten und Freiwillige erfasst und betreut. Die Mutter, Gerta Heitmann, verlässt mit dem zehnjährigen Heiko die Wohnung in Saarbrücken und macht zunächst vier Wochen Ferien im Hotel in Thann, um dem Vater nahe zu sein. Dank Oberstleutnant Rützler erlangt die Familie schließlich die Genehmigung, eine möblierte Wohnung des elsässischen Vermieters Monsieur Werlin in Alt-Thann zu beziehen. Von Ende 1942 bis Herbst 1944 leben die Heitmanns in einer elsässischen Dorfgemeinschaft. „Wir waren als Deutsche in einem besetzten Land, in dem die Leute als Zwangsdeutsche geführt wurden und überhaupt nicht Deutsch sein wollten, obwohl sie Deutsch sprachen.“

Unter dieser Voraussetzung erweist sich das Verhältnis zu den neuen Nachbarn als schwierig. Das Kommando, für das Heikos Vater arbeitet, ist den Bewohnern von Alt-Thann höchst suspekt. Misstrauen und Verunsicherung prägen die ersten Kontakte der Familie mit den neuen Nachbarn. „Die Elsässer wussten ja nicht, wer wir waren.“ Trotz der aufgeladenen Situation empfindet Heiko den Kontakt zu Gleichaltrigen zunächst als unbelastet. Dabei machen sich im Klassenzimmer durchaus auch Angst und Schrecken bemerkbar. Einige seiner Mitschülerinnen und Mitschüler in der Oberschule in Thann sind im Unterricht enorm zurückhaltend. Der Vater eines Mitschülers ist in einem Konzentrationslager interniert, während der eines anderen als Kriminalpolizist arbeitet. „Der war wahrscheinlich bei der Gestapo.“ Erst nach und nach wird Heiko klar, dass in der Klasse offenbar einige Kinder fehlen. Auf die Frage, wo sich der ehemalige Mitschüler befände, über den ständig gesprochen wird, erhält er keine Antwort .

Gerta, Christian und Heiko (stehend) Heitmann (Foto: privat) | Klicken zum Vergrößern

Für Heiko sind es punktuelle Begebenheiten, die die Beziehung zu den Elsässern entspannen. Zum Beispiel der erste Besuch seines Klassenkameraden Claude Imbach, der seit Einführung des Zwangs zum Tragen deutscher Vor- und Nachnamen im Januar 1943 offiziell Lothar heißt. Als er im Wohnzimmer der Familie Heitmann neben einem Bild, das den Vermieter Werlin in preußischer Uniform abbildet, auch Bilder von dessen Sohn in französischer Paradeuniform erblickt, scheint das Eindruck zu hinterlassen: „Von dem Tag an waren die Leute freundlich zu uns. Das muss sich rumgesprochen haben.“ Das gegenseitige Misstrauen nimmt nach und nach ab , da der Kontakt mit den elsässischen Nachbarn – vor allem von Heiko und seiner Mutter – langsam enger wird. „Meine Mutter war für die Leute ungefährlich. Da wurde auch nie über Politik gesprochen. Für mich war meine Mutter eine Art Bindeglied. Mein Vater war da eher offiziell, der musste ja Uniform tragen. Da war er ein bisschen unberührbar.“ Ganz verschwindet die Unsicherheit aber keineswegs. Als Gerta Heitmann eines Tages von Claudes Tante Pilze geschenkt bekommt, schmeißt sie diese sofort in den Müll. „Das war das erste Mal, dass sie überhaupt miteinander sprachen.“

Während die Familie offenbar einen schweren Stand im sozialen Gefüge in Alt-Thann hat, genießt Heiko unter seinen Altersgenossen durchaus Privilegien. In der Hitlerjugend, zu deren Mitgliedschaft seit der „Verordnung über die Hitlerjugend im Elsaß“ vom 2. Januar 1942 alle 10- bis 18-jährigen Jungen im Elsass verpflichtet sind, treffen sich die Jugendlichen zu den sogenannten Heimabenden . Ansonsten spielen sich die Aktivitäten vor allem im Freien ab: Die Jungen schießen mit polnischen Karabinern und KK-Gewehren, marschieren durch die Vogesen, übernachten in Bauernhöfen und veranstalten Zeltlager . Heiko durchläuft eine „Führerlaufbahn“: Er wird Hordenführer, Oberhordenführer, Jungenschaftsführer, Oberjungenschaftsführer und schließlich Jungzugführer. „Das hatte einen Vorteil: Man bekam immer einen Sitzplatz im Kino. Das war wichtig als Kind.“ Gegenüber den elsässischen Altersgenossen bekommt er als blonder deutscher Junge in der Jugendorganisation der NSDAP offenbar eine Sonderbehandlung. „Ich wurde immer gefördert, auch wenn ich das gar nicht wollte.“ Ein paar Mal wird Heiko in die Führerschule nach Ollweiler eingeladen. „Da bekamst du einen Befehl mit Fahrkarte und allem: ‚Der Junge muss da hinkommen, dann und dann.‘ Und dann ging‘s los. Antreten, hinlegen, anlegen, Marsch, Marsch! Das war richtig militärisch – und das für kleine Jungs! Aber ich habe das nicht bereut. Ich habe da Umgangsformen gelernt, mit Leuten zu reden, die bedeutsam waren.“

Die Leimbacherstraße in Alt-Thann, wo die Familie Heitmann von 1942 bis 1944 wohnte. Aufnahme von 1955 (Foto: privat) | Klicken zum Vergrößern

Der enge Kontakt zu Oberstleutnant Rützler bewahrt gelegentlich vor Schwierigkeiten und erlaubt der Familie gewisse Freiheiten. So lehnt Gerta Heitmann den ihr in der nationalsozialistischen Frauenorganisation Frauenschaft angebotenen Posten als Propagandaleiterin einfach ab. „Mein Vater sagte: ‚Bist du verrückt? Das kannst du doch nicht einfach ablehnen. Die holen uns!‘ Das sagte man damals: ‚Die holen uns!‘ Wahrscheinlich wegen unseres Kontakts zu den Rützlers ist aber nichts passiert. Da haben sie uns zu Frieden gelassen.“ Bemühungen, den Mitmenschen aufrichtig und bescheiden zu begegnen, führen zwar dazu, dass die Familie im Dorf zunehmend akzeptiert wird, andererseits verbietet sich eine offene Ablehnung gegen die deutschen Nachbarn aber von vorneherein, da bei einer Einstufung als „germanophob“ mit Stigmatisierung und schlimmeren Konsequenzen zu rechnen gewesen wäre. Letztlich werden die Heitmanns zwar geduldet, bleiben aber Exoten: „Wenn ich durchs Dorf lief, hörte ich ‚Lueg do, d‘r Ditsche!‘ [schau, da der Deutsche]. Meine Mutter war die Ditschmadame. Dafür waren die Elsässer für mich damals immer Halbfranzosen.“

Im November 1944 ergreift die Familie die Flucht. Zu dem Zeitpunkt rollen bereits amerikanische Panzer durch die Burgundische Pforte. „Als wir flüchteten, kam ein Nachbar aus seinem Keller und sagte zu meiner Mutter: ‚Frau Heitmann, bleiben sie hier. Jetzt ändert sich alles. Das wird nicht gut gehen mit der Fahrt.’“ Von den Deutschen, die sich gegen eine Flucht entscheiden, werden die meisten von den Alliierten interniert. Die unübersichtliche Situation dient einigen offenbar zur Begleichung persönlicher Fehden: „Als wir schon geflohen waren, haben sie einen Vorarbeiter aus einer Chemiefabrik totgeschlagen. Die haben die Gelegenheit genutzt. Die Deutschen waren weg und die Franzosen noch nicht im Ort.“ In einem Militärwagen des Wehrbezirkskommandos werden Gerta und Heiko zusammen mit Schränken voller Geheimakten zunächst nach Strasbourg und von dort aus nach Tuttlingen gebracht.

Nach dem Krieg vermeidet es die Familie weitestgehend, auf die früheren Nachbarn zuzugehen. „Wir wollten niemanden in Schwierigkeiten bringen, weil er Kontakt mit Deutschen hatte.“ In den folgenden Jahren werden aber nach und nach Brieffreundschaften ins Elsass aufgebaut. „Wir wurden nach dem Krieg auch von einigen besucht.“ Wenn Heiko Heitmann heute von seiner Zeit im Elsass erzählt, dann wird das damals vorhandene ständige Misstrauen unter den Menschen deutlich spürbar. Gleichzeitig erzählt er aber auch von einer glücklichen Kindheit  , die, wie es scheint, auch langjährige Freundschaften zuließ. Während unseres Gesprächs meldet sich eine heute 90-jährige Bekannte von Heiko aus dem Elsass telefonisch, die er alle paar Jahre im Elsass besucht. Ihre Geschichte über die Zeit der deutschen Besetzung ist sicherlich eine ganz andere.

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