Ein Tag „nicht wie die anderen“: Der Rückzug der deutschen Besatzer aus Straßburg aus der Sicht eines elsässischen Geistlichen und Angestellten im badischen Kultusministerium
Der Almanach Sainte-Odile, ein von der Erzdiözese Straßburg seit 1926 herausgegebener Kalender, veröffentlichte 1990 die Erzählung eines Zeitzeugen über jenen schicksalsvollen Tag im November 1944, an dem die deutschen Besatzer Straßburg verließen.[1] Der Autor, Priester Trutmann, war zur Zeit der verschleierten Annexion des Elsass im Priesterseminar für das badische Kultusministerium tätig. Seine Schilderungen ergänzen in interessanter, teils widersprechender, teils bestätigender Weise die Ausführungen Erich Schillings zum Tod des Ministerialdirektors Karl Gärtner, die vor kurzem Gegenstand dieses Blogs waren. Auch zeugen sie von der Alltäglichkeit, die selbst geschichtsträchtigen Tagen innewohnt. Im Folgenden möchte ich Trutmanns Erinnerungen hier wiedergeben. Sämtliche Zitate stammen aus seiner Erzählung.
Am Morgen des 23. November 1944 begaben sich die elsässischen Beamten und Angestellten des badischen Kultusministeriums, das seit Anfang 1943 im Priesterseminar Straßburgs im Bruderhof (ehemals Rue des Frères) direkt am Münster untergebracht war, wie gewöhnlich zur Arbeit. Es war zwischen 8:30 und 9 Uhr morgens, als sie ihre deutschen Kollegen und Vorgesetzten in der Eingangshalle antrafen. Diese standen unruhig in der Halle, „die Koffer gepackt“, und waren dabei, „ihre schnelle Abreise vorzubereiten“. Unter ihnen befand sich laut Trutmann auch der Minister Paul Schmitthenner selbst. Durch die Fenster des Zwischengeschosses beobachteten die elsässischen Männer und Frauen, wie „unsere Kollegen von jenseits des Rheins in großer Eile flüchteten.“ Schmitthenner behauptete später, der elsässische Fahrer habe ihn und den mit ihm verbliebenen Beamtenstab einfach sitzen gelassen. Laut Trutmann blieb der Chauffeur jedoch treu und brachte zumindest den Minister sicher nach Kehl. Dass nicht allen deutschen Beamten die Flucht gelang, bestätigt Trutmann. Denn am Nachmittag sahen er und seine Kollegen einige von ihnen im Hof des benachbarten Lycée Fustel de Coulange in Gefangenschaft.
Nachdem die deutschen, zeitweiligen „Herren“ des Seminars fort waren, füllte sich das Gebäude mit Anwohnern aus der Nachbarschaft, die Schutz vor dem Gefechtsfeuer suchten. Die ersten Panzer der Alliierten rollten vom Münsterplatz kommend am Seminar vorbei. Ein paar Angestellte und Geistliche, darunter auch der Erzpriester des Münsters, Eugène Fischer, und der Autor des Berichts, wagten sich auf die Straße, um die französischen Soldaten zu begrüßen. Diese befohlen sie aber sofort wieder zurück. Trutmann und seine Gefährten entdeckten jedoch vor dem Ausgang der Buchhandlung Alsatia den leblosen Körper des SS-Oberführers Rudolf Lohse, die Panzerfaust neben ihm liegend. Sie brachten ihn in die Eingangshalle des Priesterseminars und stellten alsbald fest, dass er tot war. Daraufhin zogen sich die führungslosen Elsässerinnen und Elsässer in ihre Büros zurück und, „denn das Wetter war an diesem Tag nicht das beste“, bereiteten sich ein warmes Getränk. Doch schon kam „wie ein Blitz“ ein Kollege herbeigeeilt und warnte sie: „Rettet euch, Gärtner ist im Haus, er schießt auf die Leute.“
Trutmann beschreibt Ministerialdirektor Karl Gärtner als allseits bekannt: „Er war ein glühendes Mitglied der NSDAP, immer in gelber Uniform, von gewalttätigem Charakter und häufig, wie auch am 23. November unter Alkoholeinfluss.“ Im Gegensatz zu Schellings Bericht, in dem Gärtners Wut sehr wohl beschrieben wird, stellt Trutmann Gärtner zudem als trunksüchtigen, fanatischen und höchst gefährlichen Amokläufer dar. „Bewaffnet mit einem Gewehr und einem Revolver, schoss er blindwütig über die Köpfe der Menschen.“ Und fast wie eine Entschuldigung klingend, fügt Trutmann erklärend hinzu: „Es ist wahr, er hatte kurz zuvor den Leichnam Lohses bemerkt, der sein Freund gewesen war.“ Trutmann floh gemeinsam mit den anderen aus einem Fenster an der Südseite des Gebäudes. Was daraufhin mit Gärtner passierte erzählt er aus zweiter Hand, ausgehend von den Erzählungen des Pfarrers Fischer.
Gärtner soll daraufhin den Pförtner des Priesterseminars gezwungen haben, ihm beim Tragen der Leiche Lohses in seinen Dienstwagen zu helfen. „Auf der Höhe der place Kleber [von den Nationalsozialisten in Karl Roos Platz umbenannt; Anm. der Verfasserin], als er bemerkte, dass [Lohse] tatsächlich tot war, schleuderte er ihn in die Straße und setzte seine Fahrt Richtung Kehler Brücke fort.“ Doch „bekleidet und bewaffnet wie er war, wurde er bald von den französischen Truppen ausgemacht.“ Und so fand Gärtner, etwa einen Kilometer vom Priesterseminar entfernt, am Quai Fustel de Coulange (zur Zeit der Nationalsozialisten: Heinrich Scheich Staden) seinen Tod. Die Geschichte eines Antihelden also, der zuletzt sogar noch seinen verstorbenen Freund verstieß.
Trutmann und seine Kollegen kehrten in ihre Schreibstuben zurück, aßen den Imbiss, den sie am Morgen mitgebracht hatten, da ein Mittagessen zu Hause aufgrund der Bombardierungen nicht in Frage kam. „Nach der Entwarnung stiegen wir zum letzten Stockwerk des Gebäudes um die im Trubel befindliche Stadt anzusehen. Die Kanonen donnerten noch, die Maschinengewehre knatterten noch hier und dort, Rauch, zum Teil sehr dichter, stieg gen Himmel auf.“ Gegen 15 Uhr stiegen sie wieder ins Priesterseminar hinab und sahen zu, wie auf der Turmspitze des Münsters die französische Flagge gehisst wurde. Am nächsten Tag kehrten einige der ehemaligen Ministeriumsangestellten an ihren Arbeitsplatz zurück. „Man musste doch den öffentlichen Dienst aufrechterhalten, den Ort überwachen und Plünderungen vorbeugen.“ Acht Tage später wurden sie informiert, dass die französische Verwaltung zurückgekehrt war. Doch Anfang Dezember wurden sie gebeten, beim Aufbau des regionalen Schulamts zu helfen. „Von diesem Moment an verließen wir die Büros des Grand Séminaire von Straßburg.“
So endet Trutmanns Bericht. Spuren der Präsenz des badischen Kultusministeriums im Priesterseminar kann man auch noch heute sehen. Louis Schlaefli, Leiter der Bibliothek des Seminars, hat sie uns gezeigt: ein Gewehrschrank im Keller, diverse Aktendeckel des Ministeriums, die von Lehrenden des Seminars zu Ordnern für ihre Vorlesungen umfunktioniert wurden, ein Bibliotheksregal mit Stempel der Zivilverwaltung; selbst ein Kleiderhaken trägt das Zeichen des Besatzungsregimes.
[1] Une Journée de novembre 1944 au grand séminaire, in : Almanach Sainte-Odile (Straßburg, 1990), S.104-105.
Sehr interessant. Ich bin der Schwiegersohn von Rudolf Lohse