„ein gewisser Stock von ehrlichen, treuen und gewissenhaften Beamten“ – ein Rückblick des Freiburger Historikers Gerhard Ritter auf die Wissenschaftspolitik in Baden vom Jahresende 1945
Das Bild einer weitgehend unpolitischen Landesverwaltung, die während der nationalsozialistischen Herrschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten sachorientierte Arbeit geleistet habe, wurde in den ersten Nachkriegsjahren vorwiegend von den Betroffenen selbst gezeichnet. Nicht nur nachgeordnete Mitarbeiter der Ministerialbürokratie, sondern auch hohe Beamte betonten in den Spruchkammerverfahren, denen sie sich nach 1945 ausgesetzt sahen, immer wieder die Sachkompetenz als handlungsleitendes Moment ihrer Verwaltungstätigkeit im „Dritten Reich“. Ein prägnantes Beispiel sind die 1952/53 niedergeschriebenen Lebenserinnerungen des Ministerialdirektors im badischen Innenministerium Friedrich Müller-Trefzer, in denen der antinationalsozialistische Korpsgeist des badischen Beamtentums eines der Leitmotive bildet. Gegen den politischen Missbrauch der Verwaltung für die Zwecke des Nationalsozialismus, der von außen – von Berlin oder von den regionalen Parteiorganisationen der NSDAP – ausgegangen sei, habe man nach Kräften Widerstand zu leisten versucht und damit auch einigen Erfolg gehabt, da die fanatischen Parteimänner in der Beamtenschaft nur eine Minderheit dargestellt hätten. Dieses Bild, ob es nun der Selbstwahrnehmung entsprach oder eine gezielt zu Rechtfertigungszwecken entwickelte Legende war, konnten die Betroffenen in den Spruchkammerverfahren vielfach durch günstige Leumundszeugnisse untermauern. Dies galt selbst für die höchsten Verantwortungsträger der Landesverwaltung im „Dritten Reich“ wie den kommissarischen Leiter des badischen Kultusministeriums Paul Schmitthenner, zu dessen Gunsten im Spruchkammerverfahren 1950 neben anderen auch der badische Staatspräsident Leo Wohleb aussagte.
Da die Spruchkammeröffentlichkeiten, in denen das Bild der unpolitischen Landesverwaltungen immer wieder gezeichnet wurde, recht eng begrenzt waren, kommt den frühen publizistischen Arbeiten, die in eine ähnliche Richtung zielten, eine besondere Bedeutung für die Popularisierung dieses Bildes zu. In diesem Zusammenhang verdient ein Aufsatz Beachtung, den der Freiburger Historiker Gerhard Ritter am Jahresende 1945 in der ersten Ausgabe der von ehemaligen Redakteuren der 1943 verbotenen „Frankfurter Zeitung“ neu gegründeten Zeitschrift „Die Gegenwart“ veröffentlichte. In dem Beitrag „Der deutsche Professor im ‚Dritten Reich‘“ schildert Ritter die Umstände, unter denen ein regimekritischer und zuletzt konsequent oppositioneller Hochschullehrer und Wissenschaftler, als der er sich selbst sah, im „Dritten Reich“ seiner Arbeit nachgehen konnte und musste. Trotz des programmatischen Aufsatztitels spricht Ritter überwiegend von sich selbst und den Freiburger Verhältnissen, die er bei allem politischen Druck, der auf der Universität lastete, rückschauend für ein akademisches Leben doch nicht als völlig unzuträglich erachtete. Als Aufhänger des Aufsatzes dienen ihm Gespräche, die er im Jahr 1943 während einer Türkeireise mit deutschen Emigranten geführt hatte, die ihn verwundert gefragt hätten, „wie es nur möglich sei, so unabhängige Meinungen über historisch-politische Fragen, wie ich sie in meinen Schriften und Vorträgen zeige, im Hitlerreich zu äußern, ohne sich dadurch eine politische Verfolgung zuzuziehen“.
In seinem Aufsatz, der vor allem deshalb Aufmerksamkeit erregte, weil Ritter dort seine Zugehörigkeit zu den Verschwörerkreisen des 20. Juli 1944 und seine Inhaftierung nach dem Scheitern des Hitlerattentats publik macht, schildert er zunächst einige Vorfälle, die ihm seit 1933 die akademische Lehre und das wissenschaftliche Publizieren erschwert, aber nicht unmöglich gemacht hatten. Dann nutzt er diese Einzelbeispiele zur Erklärung der „Eigenart des nazistischen Parteiapparates, der zur ‚totalen Erfassung‘ des deutschen Geisteslebens bestimmt“ gewesen sei, diese Aufgabe aber bei weitem nicht bewältigen konnte: „Er war ein Riesenapparat, aber darum von großer Schwerfälligkeit. Seine inneren Hemmungen waren so groß, daß er fast ebenso oft versagte wie funktionierte. Bis zu einem gewissen Grade war es einfach Glückssache, ob man in das zermalmende Räderwerk seines Getriebes geriet oder nicht“. Von der Prämisse ausgehend, dass die „eingesetzten Organe … vielfach zu plump“ waren, „um Erscheinungen des höheren Geisteslebens überhaupt richtig zu erfassen“, nimmt Ritter in dem Aufsatz anschließend einige dieser Organe näher in den Blick, darunter das badische Kultusministerium, das von einem „charakterlosen ehrgeizigen Mann geführt“ wurde, „einem Naziüberläufer von 1933, der uns keinerlei Deckung bot“. Die Ehre der Namensnennung machte Ritter Paul Schmitthenner, obwohl oder vielleicht auch weil er ein Fachkollege war, nicht. Immerhin, so heißt es weiter, „hatte er in seinem Ministerium eine Reihe von tüchtigen und wohlgesinnten Referenten, zum Teil noch aus der Zeit vor 1933 stammend, die sich redlich bemühten, das geistige Niveau der Hochschule gegen die politische Korruption zu verteidigen“. Ritter meint, diesen Befund sogar für die Hochschulreferenten „in den meisten deutschen Ländern“ verallgemeinern zu können, und spricht ihnen dankbare Anerkennung ihrer Verdienste „um die Erhaltung unserer deutschen Wissenschaft“ aus. „Durch ihre eigene wissenschaftliche Erziehung mit tiefer Hochachtung vor den großen Traditionen des deutschen Universitätslebens erfüllt, haben diese Bürokraten in … Kleinarbeit immer neue Dämme gegen die Sintflut des Nazismus aufgerichtet – … immer wieder darauf bedacht, den unvermeidlichen Schaden nicht zu groß werden zu lassen“.
Ritter nutzt seinen Befund dann zu einer allgemeinen Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Der „scheinbar so straffe, geschlossene Bau des Nazireiches wies einen tiefen Riß auf, der die politische Exekutive manchmal lähmte oder doch ihr Handeln verzögerte: den Riß zwischen staatlichen Behörden und Parteistellen. In der staatlichen Ämterverwaltung war immer noch, trotz aller politischen ‚Reinigungen‘ des Beamtenkörpers, ein Rest von nüchterner Sachkunde und fester Tradition erhalten geblieben, ein gewisser Stock von ehrlichen, treuen, gewissenhaften Beamten, die sich sträubten, politischer Willkür zu dienen, und die man aus den Reihen der Parteifanatiker nicht ohne weiteres ersetzen konnte, weil deren Sachwissen allzu kümmerlich war“. Welche Verbreitung Ritters Aufsatz vom Jahresende 1945 gefunden hat, ist kaum einzuschätzen. Dass er bei den in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigten Beamten unter seinen Lesern auf große Zustimmung gestoßen sein dürfte, ist aber anzunehmen; ebenso dass sich manch einer von ihnen durch die Selbstzuschreibung zu der Kategorie der Ehrlichen, Treuen und Gewissenhaften für die bevorstehende persönliche Rechenschaftslegung vor der Spruchkammer gerüstet haben dürfte.
Quelle:
Die Gegenwart, 24. Dezember 1945.