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Akten geben Auskunft: Quellen zur Zwangssterilisation im nationalsozialistischen Baden – Die „Erbgesundheitsakte“

Abb.1. §1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. | Klicken zum Vergrößern

Nur wenige Monate nach der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten im Reich am 30. Januar 1933 sollte eine neue Bevölkerungspolitik ein „rassisch reines“ und „erbbiologisch hochwertiges“, homogenes Deutschland der Zukunft sicherstellen. Ziel dieser neuen „Erbgesundheitspolitik“ war es, einen – nach Ansicht der Machthaber – physisch und geistig „gesunden Volkskörper“ zu erschaffen. „Volksgenossen“ mit vermeintlich wertvollem Erbgut und deren Reproduktivität sollten vom Staat gefördert werden. Eine Fortpflanzung der von der Idealvorstellung der Regierung abweichenden Personen galt für den Staat als unerwünscht. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das Sterilisationen unter der Nichteinwilligung des zu Sterilisierenden auf Antrag Dritter ermöglichte, diente dem Staat dazu, sein antinatalistisches Programm in die Tat umzusetzen. Als erbkrank im Sinne dieses Gesetzes galt dementsprechend, wer an „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit oder schwerer erblicher Missbildung“ erkrankt war. Ferner konnten Personen wegen „schwerem Alkoholismus“ sterilisiert werden. Um den Anschein der Legitimität der Sterilisationsgesetzgebung zu wahren, schufen die Nationalsozialisten eigene Gerichtsbehörden zur Bearbeitung der „Fälle“, die sogenannten Erbgesundheitsgerichte. Mit ihrer Angliederung an die Amtsgerichte konnte die nationalsozialistische Justiz nicht nur bereits bestehende Infrastrukturen nutzen, sondern den Betroffenen durch die Einrichtung eines scheinbar „ordentlichen Verfahrens“ Rechtssicherheit suggerieren und den Zwangscharakter des Gesetzes verschleiern. Die Schätzungen der Anzahl der im Zeitraum zwischen 1934 und 1945 von dieser Zwangsmaßnahme betroffenen Personen belaufen sich derzeit auf 350.000 bis 400.000.

Abb. 2. Anzeige auf Unfruchtbarmachung durch die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch vom 18. Dezember 1934 (GLA 561 Zugang 1988-58 Nr. 193) | Klicken zum Vergrößern

Der retrospektive Blick auf das Ausmaß der Sterilisationsaktivität der Länder zeigt, dass die Zwangsmaßnahme – bedingt durch die im nationalsozialistischen System übliche Vielfalt an Entscheidungs- und Handlungsspielräumen der lokalen Akteure – starke regionale Differenzierungen aufweist. Interessant ist an dieser Stelle, dass nicht nur in den Erbgesundheitsgerichten von großstädtischen Gebieten wie Hamburg eine hohe Anzahl an Sterilisationsanträgen einging, sondern diese auch in ländlichen Gebieten von engagierten Personen vorangetrieben wurde. Baden, der Bezirk des Sterilisationsobergerichts Karlsruhe, übertraf im Jahr 1934 alle anderen Länder mit knapp drei Anträgen auf tausend Einwohner. Am 20. März 1934, also knapp drei Monate nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, waren in Baden bereits 6513 Sterilisationseinträge eingegangen. Bis Mitte Juni des Jahres hatte sich die Zahl sogar verdreifacht. 572 Personen waren bereits operiert worden. Im darauf folgenden Monat meldete die Pressestelle des badischen Innenministeriums an das Staatsministerium nicht ohne Stolz: „Mit diesen Zahlen der durchgeführten Unfruchtbarmachungen dürfte Baden zweifellos an der Spitze der deutschen Länder in der Durchführung dieses für die Gesamtheit des Volkes so wichtigen Gesetzes stehen.“ Die statistischen Angaben zeigen, dass Baden bei der rigorosen und vorauseilenden Umsetzung und Forcierung der nationalsozialistischen Zwangsmaßnahmen einmal mehr als „Vorreiter“ der anderen Länder heraussticht.

Obwohl zur Zwangssterilisation von vermeintlich Erbkranken im Nationalsozialismus derzeit laufend publiziert wird, steht die Erforschung der Zwangsmaßnahme auf regionaler Ebene noch an ihrem Anfang. Für eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung der Thematik für das Land Baden wartet das Generallandesarchiv Karlsruhe mit umfangreichen, z.T. bislang kaum erschlossenen Aktenbeständen auf. Als Ausgangspunkt für die Untersuchung können die im Zuge der „Erbgesundheitsverfahren“ entstandenen Einzelfallakten der badischen Erbgesundheitsgerichte herangezogen werden. Die Findkartei ist nach den Orten, an denen das Verfahren stattfand, gegliedert. Um die zu einer bestimmten Person gehörigen Akten zu finden, muss also deren Name und das jeweils zuständige Gericht (meist der Wohnort oder bei Freiheitsentzug der Aufenthaltsort des Betroffenen) bekannt sein. Hierbei muss bedacht werden, dass dieselben nicht immer vollständig sind und je nach Verfahrensverlauf unterschiedliche Bestandteile enthalten. Oftmals beginnt die Akte mit der Anzeige auf Unfruchtbarmachung durch einen Anzeigeberechtigten, mit welcher auch das Verfahren in Gang gesetzt wurde. Es folgt in der Regel der Antrag des zuständigen Gesundheitsamtes, Anstaltsleiters einer Heil- und Pflege- beziehungsweise Strafanstalt mit Anzeigebegründung sowie das ärztliche „Gutachten“, welches die „Erbkrankheit“ aus (vermeintlich) medizinischer Sicht attestierte. In Fällen des diagnostizierten „angeborenen Schwachsinns“ liegt den Dokumenten oftmals ein sogenannter „Intelligenzprüfungsbogen“ bei. Die Akte enthält zumeist eine Bescheinigung durch den Amtsarzt, dass der Betroffene „über das Wesen und die Folgen der Unfruchtbarmachung aufgeklärt worden ist“, einen (handschriftlich angelegten) Beschluss des Erbgesundheitsgerichts zur Einleitung des Verfahrens mit Angaben zur Person und einer Auflistung von Institutionen (sowie teilweise auch Schreiben an dieselben), bei welchen Daten, Informationen und Akten zum Fall eingeholt wurden beziehungsweise werden sollten. Es finden sich regelmäßig ein Auszug des Strafregisters der oder des Betroffenen, die amtlich beglaubigte Geburtsurkunde, Berichte von Hausärzten, Schulbehörden, Fürsorgestellen oder sogar örtlichen Verwaltungseinrichtungen. Außerdem wurde mit der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, der Trinkerfürsorge, Heil- und Pflegeanstalten, dem Jugendamt sowie städtischen Krankenanstalten kooperiert. Das zuständige Erbgesundheitsgericht blieb während des gesamten Prozesses oftmals in engem Kontakt mit dem Gesundheitsamt als „zentrale Mittelstelle“ für erbbiologische Fragen. In einigen Fällen wurden Nachbarn und Bekannte über die betroffene Person und ihren (abweichenden) „Lebensstil“ befragt. Bei Verdacht auf „angeborenen Schwachsinn“ wurde zumeist die gesamte Familie im sogenannten „Sippenbogen“ erbbiologisch erfasst und nach Kriterien der „Lebensbewährung“ in Schule und Berufsleben bewertet.

Abb. 3. Antrag auf Unfruchtbarmachung durch die Gefangenenanstalt Mannheim vom 7. November 1938 (GLA 561 Zugang 1988-58 Nr. 877) | Klicken für Gesamtansicht

Wer von den Nationalsozialisten als untauglich oder unwillig zur geforderten Eingliederung in die „Volksgemeinschaft“ erklärt wurde, galt also ebenso als „erbkrank“ wie eine Person, die von den oben genannten Krankheiten betroffen war. Letztlich ergaben sich in der Anwendung des scheinbar medizinisch und wissenschaftlich gerechtfertigten Gesetzes häufig rein soziale Beurteilungen. Des Weiteren enthält die Erbgesundheitsakte Protokolle der Anhörung vor dem „Gericht“, ein Formblatt der Behörde mit der Festlegung des (meist in Abwesenheit des Angeklagten stattfindenden) Beschlusstermins, das Beschlussprotokoll mit der Begründung der Unfruchtbarmachung (oder eine Ablehnung derselben), eine Zustellungsurkunde und eine Empfangsbestätigung derselben. Da gemäß dem Gesetz die Möglichkeit bestand, Revision einzulegen, folgten in den Fällen, in denen Gebrauch von dieser Option gemacht wurde, Beschwerdebriefe der betroffenen Personen und ihrer Angehörigen oder Vormunde, manchmal auch weitere Gutachten, die vom Erbgesundheitsobergericht in Karlsruhe angefordert wurden, oder Schriftwechsel mit bisher nicht kontaktierten Institutionen. Für gewöhnlich enthalten die Akten dazu ebenfalls das Beschlussprotokoll des übergeordneten Gerichts, die Postzustellungsurkunden an das örtliche Gesundheitsamt und die betroffene Person. Einige Akten enthalten Formblätter, welche die Sterilisationskandidaten dazu auffordern, sich „innerhalb von 14 Tagen“ in einer die Sterilisation durchführenden Klinik zu melden. Die Akte schließt in der Regel mit einem Operationsbericht über die erfolgreich durchgeführte Unfruchtbarmachung des ausführenden Arztes. Die „Erbgesundheitsakten“ geben Auskunft über den Ablauf des Sterilisationsverfahrens im Einzelfall und die am Procedere beteiligten Behörden. Zur eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung bieten sich – je nach Betrachtungsschwerpunkt – eine zusätzliche Konsultierung der Akten des Gesundheitsamtes, ausgewählter Behörden oder – ergänzend zu den Akten aus dem Generallandesarchiv – ein Besuch der jeweiligen Stadtarchive an. Die wissenschaftliche Erforschung von Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – vor allem auf regionaler und lokaler Ebene – wird auch in den kommenden Jahren weiterhin ein spannendes Untersuchungsfeld und Anknüpfungspunkt für innovative Forschungsfragen bleiben. Die „Erbgesundheitsakten“ in den örtlichen und lokalen Archiven warten nur darauf entdeckt zu werden.

Quellen:
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Vom 14. Juli 1933, in: RGBl. I (1933) Nr. 86, S. 529.
Der badische Innenminister an den Reichsinnenminister am 9. April 1934, in: GLA 233 Nr. 25864.

Abb. 1. §1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0136_ebn&object=facsimile&pimage=2&v=100&nav=&l=de

Abb. 4. Ärztlicher Bericht über die Durchführung einer Sterilisation durch das Städtische Krankenhaus Mannheim vom 8. August 1938 (GLA 561 Zugang 1988-58 Nr. 193)

Sterilisationsbericht
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