„Sagt man im dritten Reich ein wahres Wort/Kommt gleich die Polizei & holt einen fort“. Ein Bammentaler Schmähdichter vor dem Sondergericht Mannheim
Der Verfasser dieser Zeilen hat sich in letzter Zeit häufiger mit den im Generallandesarchiv Karlsruhe überlieferten Akten des Sondergerichts Mannheim beschäftigt. Eines der projektrelevanten Ziele, die er damit verbindet, ist zu überprüfen, inwieweit die politisch unerwünschten Meinungsäußerungen, die von den Sondergerichten kriminalisiert wurden, sich auf regionale Phänomene der nationalsozialistischen Herrschaft im Allgemeinen und die Tätigkeit der Landesministerien im Besonderen bezogen.
Die Hoffnung, auf diese Weise abseits der nationalsozialistischen Selbstdarstellungen, die das überlieferte Quellenmaterial prägen, Einblicke in andere, ungeschminkte Volksmeinungsäußerungen über die regionale NS-Prominenz zu gewinnen, hat sich dabei im großen Ganzen bisher nicht erfüllt: Hitler, Göring und Goebbels sind die Protagonisten der strafrechtlich verfolgten politischen Aussagen und der Reichstagsbrand, der „Röhm-Putsch“, die allgemeine Wirtschaftslage und die Repressionspolitik des „Dritten Reiches“ ihre Hauptthemen. Die badischen NS-Führer erscheinen in den vor das Sondergericht Mannheim gebrachten Fällen eher selten und zumeist auch nur als Beispiele für den Typus des nationalsozialistischen „Bonzen“. Auch wenn die Hauptbeute der Recherchen bisher schmal ausgefallen ist, so hat sich einiger interessanter Beifang ergeben, von dem an dieser Stelle ein Stück mitgeteilt sei, weil zum einen einzelne solcher Zeugnisse der kriminalisierten vox populi der Nachwelt zugänglich gemacht werden sollten und zum anderen der hier dokumentierte Text trotz seiner offensichtlichen Fixierung auf die Person Hitler bei genauer Betrachtung auch regionale Bezüge enthält.
Angeklagt wurde vor dem Sondergericht Mannheim im Jahr 1936 wegen der Verbreitung eines aus 22 Strophen bestehenden politischen Schmähgedichts ein damals 44-jähriger ehemaliger Gemeinderechner aus Bammental bei Heidelberg. Der beinamputierte Verdächtige hatte im Frühjahr 1936 einen Kuraufenthalt in Wildbad im Schwarzwald verbracht, und nach seiner Abreise war in einem Schrank in dem von ihm bewohnten Zimmer das inkriminierte Schmähgedicht gefunden worden. Eine Reinigungskraft hatte es dem Leiter des Sanatoriums übergeben, und dieser übermittelte es der Gestapo in Karlsruhe. Der mutmaßliche Dichter wurde von der Heidelberger Gestapo vernommen, leugnete zunächst, dass das Gedicht aus seiner Feder stamme, und präsentierte, nachdem der Vergleich mehrerer Handschriftenproben ihn eindeutig belastete, dann die Erklärung, dass er während seines Kuraufenthaltes von einem ihm unbekannten Mann genötigt worden sei, das ihm ebenfalls unbekannte Gedicht abzuschreiben. Er habe es zunächst aufgehoben, um den Mann anzuzeigen, dazu dann aber doch nicht den Mut aufgebracht, weil er meinte, selbst belastet zu werden. Das Blatt mit dem Gedicht habe er schließlich in den Papierkorb in seinem Zimmer geworfen – wie es von dort in seinen Schrank gelangen konnte, war ihm unerklärlich.
Die Heidelberger Gestapo war nicht willens, den Beschuldigten mit dieser Erklärung davonkommen zu lassen, zumal einer der ermittelnden Beamten sich daran erinnerte, schon einmal mit einem identischen Schmähgedicht befasst gewesen zu sein: Fünf Monate vor dem Vorfall in Wildbad, am 1. Januar 1936, nämlich war in Heidelberg ein von einem offenkundig fiktiven „H. Schneider“ adressierter Brief an den „Führer“ aufgegeben worden, der, wie die Beschlagnahme des Schriftstücks gezeigt hatte, eben jenes 22-strophige Schmähgedicht enthielt. Die Ermittlungen waren damals in eine Sackgasse gemündet, wurden nun aber wiederaufgenommen und führten durch einen Schriftvergleich zu einer weiteren Belastung des ehemaligen Bammentaler Gemeinderechners. Nachdem auch noch seine Ehefrau seine Handschrift auf den fraglichen Schriftstücken identifizierte und ihn der Gestapo gegenüber als notorischen Querulanten schilderte und ein Gutachten des Heidelberger Staatlichen Gesundheitsamtes ihm zwar „einen gewissen Mangel an höherem Urteilsvermögen“, „primitive Denkungsrat“ sowie „Lügenhaftigkeit“ attestierte, ihn aber für „nicht geisteskrank“ erklärte, hatte der Beschuldigte keine Chance auf einen Freispruch: Das Sondergericht Mannheim verurteilte ihn in dem üblichen Schnellverfahren im Februar 1937 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten wegen eines Vergehens nach §4 (Aufforderung oder Anreizung zur Zuwiderhandlung gegen Anordnungen der Reichsregierung) der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933.
Bei dem 22-strophigen Gedicht, das dem ehemaligen Bammentaler Gemeinderechner zum Verhängnis wurde, handelt es sich um eine Generalabrechnung mit dem Nationalsozialismus an der Macht, in der sich Enttäuschung über die ausgebliebene Erfüllung vor allem sozialer und wirtschaftlicher Versprechen („Die Butter ist zwar auch schon knapp/Devisen hat Deutschland auch mal gehabt/Im dritten Reich wird stets aufgebaut/Das geht ja wie Krebseslauf“) sowie Verdruss über das allgemein repressive Klima seit 1933 („Herr Hitler spricht in seinen Reden/Er hat den Deutschen die Freiheit gegeben/Die Zwangsjacke hat er uns angezogen/Und mit der Freiheit ist alles verlogen“) widerspiegeln. Die badische Herkunft des Gedichts erschließt sich ganz offensichtlich gleich in der zweiten Strophe („In Heidelberg hat sich’s bewiesen/Wo ist die Polizei geblieben/Sie bettelte von Haus zu Haus/Und morden kann man ungestört drauf“), und auch die neunzehnte („Der Adolf Hitler hat gelacht/Als er bekommen hat die Macht/Mit 1000 M. monatlich kommen wir auch nicht aus/Wir leben jetzt auch in Saus und Braus“) nimmt möglicherweise Bezug auf regionale Problemlagen: Die badischen Nationalsozialisten hatten nämlich vor der Machtübernahme besonders nachdrücklich für eine Begrenzung der Gehälter im öffentlichen Dienst auf monatlich 1.000 Reichsmark agitiert, und noch 1933 war das Thema virulent geblieben, weil der NS-Ministerpräsident Walter Köhler einige Anstrengungen unternahm, dieses Vorhaben tatsächlich durchzusetzen, womit er allerdings am Desinteresse seiner Ministerkollegen und des Reichsstatthalters Robert Wagner sowie dem Widerspruch von nationalen NS-Größen scheiterte. In den nicht allzu zahlreichen Ermittlungen wegen despektierlicher Äußerungen über Wagner und auch Köhler selbst jedenfalls tauchen Verweise auf das generell nicht eingelöste und mit Blick auf die Ministereinkünfte die Realität verhöhnende Versprechen der Gehaltsobergrenzen immer wieder auf.
Einen dritten Hinweis auf die regionale Verortung des Gedichts schließlich geben die beiden Verse, die in der elften Strophe dem Zitat aus der Überschrift dieses Blogartikels folgen: „Sag nur die Wahrheit nicht so laut/Sonst kommst Du gleich nach Kislau“. Dass sich der Name des badischen Konzentrationslagers nicht gut ins Reimschema fügt, fällt nicht ins Gewicht, da das Gedicht wohl ohnehin keine literarischen Ansprüche erfüllen wollte. Erinnerungswert mag es aus einem anderen Grund erscheinen: nämlich als zeitgenössisches Zeugnis einiger plausibler Einschätzungen des elementaren Charakters der nationalsozialistischen Herrschaft.
Quelle: GLA 507 1101
Quelle-Schmähgedicht