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„Württemberg hat sich bekanntermaßen als das krisenfesteste Land unter den deutschen Ländern erwiesen.“ Warum Württemberg und Baden vereinigt werden dürfen – eine Denkschrift von Wilhelm Murr 1934

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Wilhelm Murr, 1934 © LMZ 025596

Die Reichsreformdebatten in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft waren nicht nur in Baden von großem Interesse, sondern wurden ebenso in Württemberg sehr genau registriert und vorangetrieben. Auch Reichsstatthalter Wilhelm Murr fühlte sich dazu berufen, seinerseits Vorschläge im Interesse Württembergs einzubringen. Am 29. Dezember 1934 übersandte  Murr eine an den „Führer“ persönlich gerichtete elf-seitige „Denkschrift zur Gaueinteilung des Deutschen Reiches“ mitsamt zehn Anlagen von verschiedenen Experten, die Gebietsfragen aus einer „geschichtlichen, wirtschaftlichen und stammesmässigen Seite erörtern“ sollten. Verfasst wurde die Denkschrift offenbar von Murrs persönlichem Referenten, dem Staatssekretär im Staatsministerium Karl Waldmann, auch wenn eine zuordenbare Autorenschaft aus den Berliner Akten nicht erkennbar ist (Sauer: Württemberg im NS, S. 46). In der Reichskanzlei dankte man im Januar 1935 ergebenst für das Schreiben und verwies darauf, „dieses beachtliche Material“ auch an Wilhelm Frick weiterzuleiten, der als Reichs- und preußischer Innenminister formal dafür zuständig sei. Murrs Eingabe an Hitler war von keiner Stelle gefordert und bewegte sich in einer Reihe von vielen eingereichten Gebietsreformvorschlägen aus allen Teilen des Reichsgebietes, die wiederholt bei Hitler vorgebracht wurden. Dies verdeutlicht auch der interne Aktenvermerk des Referenten in der Reichskanzlei: Nach Informationen aus dem Innenministerium werde eine Gaueinteilung in diesem Jahr nicht angestrebt, mithin müsse Reichsminister Frick Hitler „möglichst bald wieder in der Angelegenheit Vortrag halten“, so die Einschätzung der Lage hinsichtlich der Reichsreformfragen Ende 1934. Obwohl bekanntlich die Gebietsreformpläne im Nationalsozialismus nie über den Status von Entwürfen hinauskamen und Hitler nur drei Monate nach dem Eingang der Vorschläge aus Württemberg jegliche weitere Reichsreformdiskussionen wiederholt – wie schon in den Jahren 1933 und 34 – strikt untersagte, eröffnet die Denkschrift wichtige Einblicke in das Selbstverständnis der württembergischen Akteure. Die Ausführungen des Reichsstatthalters lesen sich nicht nur als eigene Vorschläge zur Gebietsreform, sondern verstehen sich offenbar zugleich als Reaktion auf Entwürfe aus anderen Teilen des Reiches.

Besonders die aus der Badischen Staatskanzlei stammenden Denkschriften von Karl Müller-Trefzer – vorgestellt von Frank Engehausen  – wie auch eine andere unter dem Titel „Gedanken zur Reichsreform“ firmierende Version, die vom badischen Reichsstatthalter Robert Wagner bereits im Dezember 1933 an mehrere Reichsministerien übersandt wurde, beschäftigten sich zu nicht unwesentlichen Teilen mit der Frage eines Zusammenschlusses der südwestdeutschen Gebiete und brachten in diesem Zusammenhang ähnliche Argumente gegen eine Vereinigung vor. Die Akteure aus Baden zeigten sich stets skeptisch, Wagner meinte gar „gerade gegen die Vereinigung von Württemberg und Baden in allen Bevölkerungsschichten des Landes Baden eine lebhafte Abneigung“ zu diagnostizieren. Die württembergischen Amtsträger vertraten hingegen eine grundlegend andere Position und formulierten dies bemerkenswert selbstbewusst: Württemberg habe sich, so Murr in seinen einleitenden Ausführungen der Denkschrift, „bekanntermaßen als das krisenfesteste Land unter den deutschen Ländern erwiesen“ und würde „heute fast überall als Vorbild angesehen.“ Dieses Sonderbewusstsein spiegelt sich auch in den anschließende Bemerkungen zur wirtschaftlichen, historischen, „stammesmäßigen“ und sozialen Entwicklung Württembergs, allesamt untermauert mit diversen Gutachten: Das „württembergische Staatsgefühl ist stärker als schwäbisches oder fränkisches Stammesgefühl“ führte Murr beispielsweise an und bezog sich auch auf die historische Dimension des Landes, das sich als ein „seit dem 11. Jahrhundert in allmählichem Werden gewachsenes Gebilde“ zeige. Stuttgart sei dabei nicht nur das Wirtschafts- und Verwaltungszentrum Württembergs, sondern darüber hinaus auch ganz Südwestdeutschlands.

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Anschreiben Murrs zur Übersendung seiner Denkschrift an Hitler, 29.12.1934, Bundesarchiv R43II 496, S. 69

Die daraus resultierenden, sehr offensiv formulierten Vorschläge für die Gebietsreform verwundern daher nicht: Eine „wesentliche Änderung der Gaugrenze“ wurde für nicht notwendig erachtet, neben „ringsherum kleinere[n] Grenzregulierungen“ müsse einzig für die Enklaven- und Exklavengebiete Hohenzollern eine Regelung gefunden werden. Konkret schlug die Denkschrift vor, dass sämtliche Hohenzollerischen Lande Württemberg zufallen sollten. Dazu sei es neben dem Anschluss kleinerer Enklaven anderer Länder gerechtfertigt, auch badische Gebiete am Bodensee aufgrund der Geografie, Infrastruktur und wirtschaftlichen Verflechtung anzugliedern. Murr ging es offensichtlich um Zugewinne für Württemberg – eine gewagte und durchsichtige Forderung, die dem Interesse des Reiches freilich zuwiderlaufen konnte. Der Reichsstatthalter schlug wohl deshalb eine Alternative vor, die nicht weniger zumindest politische Zugewinne versprach: Sollte das „Reichsinteresse eine Änderung verlang[en]“, dann schien, in der textlichen Gestaltung der Denkschrift deutlich hervorgehoben, eine „Vereinigung  Württemberg-Baden das Gegebene zu sein.“ Dass Württemberg erstgenannt wird, war kein Zufall: Wirtschaftlich stehe Baden „erheblich schlechter“ als Württemberg da, diagnostizierte Murr und ließ kein gutes Haar an den ökonomischen Verhältnissen der Landesnachbarn. Zwar räumte er Mannheim als zukünftigen „Umschlaghafen für die Wirtschaft“ eine große Bedeutung ein, als „Verwaltungsmittelpunkt“ der beiden Länder jedoch „könnte nur Stuttgart in Frage kommen“. Darüber hinaus fühlte sich der württembergische Reichstatthalter bei dieser Gelegenheit dazu berufen, Vorschläge zur Gesamteinteilung des deutschen Reichsgebietes vorzutragen. Zwar sind die Ausführungen im letzten Kapitel der Denkschrift äußert knapp gehalten und im Aktenbestand fehlt die Anlage zehn (offensichtlich eine Karte mit dem Gebietsreformvorschlag), auf welche Murr seine Aussagen stützte. In seinem Vorschlag scheint der Württemberger aber ebenso von einem Zusammenschluss Württembergs und Badens ausgegangen zu sein, da von den beiden Ländern „zusammen als Gau“ gesprochen wird.

Doch nur bei Empfehlungen zur Gebietsreform wollte es der Reichstatthalter nicht belassen, sondern sah sich in der Pflicht, Stellung zu einer Reihe anderer ihm zu Ohren gekommener Vorschläge zu beziehen. Im gewohnten Argumentationsstil – bestehend besonders aus wirtschaftlichen, aber auch aus historischen, sozialen und „stammesmäßigen“ Ausschweifungen – werden Pläne einer Zuweisung von Teilen des württembergischen Schwarzwaldes zum Gau Baden scharf zurückgewiesen, auch einer Fusion südwürttembergischer, -badischer und bayerischer Gebiete zum „Gau Schwaben“ konnte er nichts abgewinnen. Für jegliche Gebietsabtretung bzw. gar Teilung des Landes Württemberg hatte Murr kein Verständnis, drückte sogar Empörung darüber aus: Der entsprechende Vorschlag sei „so grotesk und abwegig, daß er einer kritischen Betrachtung eigentlich nicht bedürfte“ und fände bei „allen Sachkennern nur ein Kopfschütteln.“ Insgesamt „türmen sich geradezu die Widersprüche“, so das Fazit der Stellungnahme.

Anders als es die Kollegen in Baden vertraten, setzte Murr im Dezember 1934 – zumindest für den Fall, dass ländliche Zugewinne Württembergs zuvorderst durch die Hohenzollerischen Lande nicht im Interesse des Reiches lägen – deutlich auf eine Fusion der südwestdeutschen Gebiete und ließ keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass dies unter administrativer Vorherrschaft Württembergs geschehen sollte. Ausgestattet mit zahlreichen Gutachten, spitzfindiger Argumentation und einem demonstrativen Willen, die regionalen Interessen Württembergs durchzusetzen und auszubauen, zeigen die Ausführungen des Reichstatthalters dessen erhebliches Selbstbewusstsein in der Verortung Württembergs als herausragendes Land im Reichsgebiet. Dies wird nicht zuletzt darin deutlich, dass Murrs Schreiben direkt an Hitler adressiert war und die Denkschrift eben nicht – wie die badischen Vorschläge aus der Staatskanzlei – letztlich Umlauf nur innerhalb des Landes genoss.

 

Quellen und Literatur:

Bundesarchiv R 43 II/496
Bundesarchiv R 43 II/495
Walter Baum: Reichsreform im Dritten Reich, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 3 (1955), S. 36–56.
Paul Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975.

 

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