„Ein ganz großer Schock, der da passiert ist“ – Interview mit Chana Dischereit über den antiziganistischen Vorfall von Singen und seine Folgen
Von Laura Hankeln und Joey Rauschenberger
Im Teilprojekt zum Antiziganismus wird die Bewältigung und Nicht-Bewältigung der NS-Vergangenheit in Baden-Württemberg aus der Perspektive des mehrheitsgesellschaftlichen Umgangs mit der Sinti und Roma-Minderheit untersucht. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen im antiziganistischen Diskurs und behördlichen Handeln über die historische Zäsur des Kriegsendes hinaus. Die akute Gegenwartsdimension dieses Themas erschließt sich, wenn man an die zahlreichen Vorfälle von antiziganistischer Diskriminierung oder gar Gewalt denkt, die Sinti und Roma, auch in Baden-Württemberg, bis heute erfahren. Der Brandanschlag von Dellmensingen bei Ulm von 2019 zeigt das Potential antiziganistischer Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft auf. Nun gab es im Land einen wei-teren Vorfall, der auf mögliche anhaltende Probleme auch im Bereich des staatlich-institutionellen Antiziganismus verweist. In Singen am Bodensee wurde am 6. Februar 2021 ein 11-jähriger Sinto von Polizeikräften verhaftet und in Handschellen abgeführt. Er und ein weiteres Kind wurden dabei mutmaßlich antiziganistisch beleidigt und bedrängt. Über die Geschehnisse und den Stand der Aufarbeitung sprachen Laura Hankeln und Joey Rauschenberger mit Chana Dischereit vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg.
Teil I:
Rauschenberger: Frau Dischereit, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch nehmen! Für den baden-württembergischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma begleiten Sie die Entwicklungen nach dem antiziganistischen Vorfall von Singen aufmerksam und kritisch. Die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es den Betroffenen, insbesondere dem verhafteten 11-jährigen Jungen, und ihren Familien heute?
Dischereit: Das Kind, das in Handschellen gefesselt wurde, ist in psychologischer Behandlung, denn es war ein ganz großer Schock, der da passiert ist, und die Kinder haben über Angstzustände berichtet. Eines der Kinder hat sich nach dem Vorfall nicht mehr getraut, alleine aus dem Haus zu gehen. Positiv lässt sich aber sagen, dass sich viele Menschen bei der Familie des verhafteten Kindes gemeldet und ihr Mitgefühl ausgedrückt haben. In der Community hat das Ereignis wohl deshalb eine sehr starke Resonanz gefunden, weil man es zum Teil als Spitze eines Eisbergs wahrgenommen hat. Jedenfalls hat die Solidarität geholfen, das Erlebte ein Stück weit zu verarbeiten. Positiv lässt sich heute konstatieren, dass das Kind das Erlebte als Unrecht einstufen kann, was laut Kinderpsychologen das wichtigste Moment ist.
Hankeln: Weiter würde ich Sie gerne bitten, das Geschehene für unsere Leserinnen und Leser in eine chronologische Ordnung zu bringen.
Dischereit: Am 6. Februar 2021, um ca. 16:30 Uhr spielten zwei Kinder im Treppenhaus eines Hochhauses und zwei weitere Kinder waren in einem nahegelegenen Drogeriemarkt einkaufen. Bei den Kindern handelt es sich um drei 11-Jährige, zwei Jungen und ein Mädchen, und einen zwölfjährigen Jungen. Aus unbekannten Gründen wurde dann die Polizei gerufen. Zwei Beamte gingen in das Hochhaus, die anderen zwei Beamten sahen die Kinder vom Drogeriemarkt kommen und riefen sie zu sich, um eine Personenkontrolle durchzuführen. Die Kinder haben gleich ihr Alter angegeben, das also von Anfang an bekannt war. Unterdessen haben die zwei Beamten im Hochhaus die Personalien der dort spielenden Kinder noch auf dem Balkon aufgenommen – was durch die Umgebung eine besondere Situation darstellt. Dabei hat ein Beamter nach dem Nachnamen eines Kindes gefragt und ob es von der „Zigeunerfamilie“ sei. Ohne Beachtung der Corona-Regeln sind die Beamten mit den Kindern im Fahrstuhl nach unten gefahren. Bei den anderen Kindern angekommen hat derselbe Beamte den Jungen, dem später die Handschellen angelegt wurden, auf gebrochenem Romanes angesprochen. Sinngemäß hat er gesagt: „Einer von den Zigeunern, die kennen wir ja“ und „du kommst eine Nacht hinter Gitter“ sowie, dass der „Mulo“ – also der Tod – ihn „kommen hole“. Die Polizei durchsuchte das Kind und fand bei dem 11-jährigen Jungen ein kleines Taschenmesser – wie es Kinder in diesem Alter eben manchmal bei sich tragen. Der Junge hat angegeben, dass er damit Arbeiten im Garten mache. All das passierte nicht weit entfernt von der Wohnung der Großmutter des Jungen, in der sich zur selben Zeit auch die Eltern aufgehalten haben. Währenddessen haben die Eltern der Kinder auf deren Handys angerufen, um sie zum Essen zu rufen. Die Beamten hatten aber den Kindern verboten, ans Handy zu gehen. Schließlich schickten die Beamten die Kinder weg, bis auf den Jungen mit dem Taschenmesser. Ihm haben sie Handschellen hinterm Rücken angelegt. Das Kind hat die Polizisten angefleht, die Mutter benachrichtigen zu dürfen, und auf seine gesundheitlichen Probleme hingewiesen – es habe Asthma und sich bei einem Unfall drei Rippen angebrochen. Trotzdem haben sie das Kind unter Einsatz körperlicher Gewalt auf den Rücksitz des Einsatzwagens verbracht. Im Auto hat der 11-Jährige nochmal auf sein Asthma hingewiesen und dass er wegen der Fesselung Atemprobleme habe. Darauf reagierte einer der mitfahrenden Beamten mit: „Halt die Schnauze“.
Rauschenberger: Was passierte, nachdem der Junge abgeführt worden war?
Dischereit: In der Zwischenzeit haben die anderen Kinder der Mutter des abgeführten Kindes erzählt, was passiert ist. Die Mutter hat sofort bei der Polizeiwache angerufen und nach ihrem Kind gefragt, doch die Antwort lautete dann sinngemäß: „Das weiß ich doch nicht, wo ihr Kind ist, jedenfalls nicht hier!“. Sie hat nochmal auf die Vorerkrankungen ihres Kindes hingewiesen und darum gebeten, das Kind per Funk suchen zu lassen. Als sich die Polizei dann nicht gemeldet hat, hat sie – nach etwa fünf Minuten – nochmal angerufen, um wieder nach ihrem Sohn zu fragen. Die Beamten gaben an, das Kind nicht gefunden zu haben. Beim dritten Anruf der Mutter haben sie das Telefon gar nicht mehr abgenommen. Der Umgang mit der Mutter ist auch Bestandteil der jetzt laufenden Ermittlungen. Unterdessen hatten sie den Jungen in einem Verhörzimmer auf der Polizeiwache festgehalten. Die Handschellen nahmen sie ihm erst ab, als ein weiterer Beamter das verlangte. Später ließen sie den 11-Jährigen frei und schickten ihn alleine nach Hause – seine Eltern hatten sie nicht benachrichtigt. Um zu seiner Familie zu kommen, musste er eine vielbefahrene Schnellstraße überqueren, auf der er zuvor schon einmal angefahren worden war. Seit diesem Unfall hat er verständlicherweise Probleme, diese Straße zu überqueren. Weder der Mutter noch dem Kind wurde je mitgeteilt, warum in dieser drastischen Weise verfahren wurde.
Hankeln: Können Sie auf die Nachgeschichte dieser Ereignisse eingehen? Insbesondere interessiert uns natürlich, ob es seit Mitte März, als in den Medien zuletzt darüber berichtet wurde, einen neuen Kenntnisstand gibt.
Dischereit: Die Familie hat Anzeige erstattet und aktuell laufen Ermittlungen gegen vier Polizisten und Polizistinnen, unter anderem wegen Freiheitsberaubung. Auch das Kind, das im Hochhaus gefragt wurde, ob es von der „Zigeunerfamilie“ sei, hat Anzeige wegen Beleidigung und Freiheitsberaubung erstattet. Bisher fanden dazu verschiedene Zeugenaussagen und die Befragung der Kinder statt. Aktuell warten sie und wir auf eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Es ist relativ normal, dass sich die Staatsanwaltschaft bei so etwas Zeit nimmt. Laut der Einschätzung des Anwalts gehen wir aber davon aus, dass die Staatsanwaltschaft im September entscheidet, ob ein Verfahren eröffnet wird oder nicht.
Rauschenberger: In Ihrer Schilderung ging es um die Ansprache der Kinder in gebrochenem Romanes, einer der Sprachen der Sinti und Roma. Auch in den Medien war darüber zu lesen. Können Sie erklären, warum es problematisch ist, wenn Polizeibeamte Angehörigen der Minderheit gegenüber die Sprache verwenden?
Dischereit: Es gibt da zwei Komponenten: Historisch betrachtet ist es auffällig, dass die – rudimentäre – Beherrschung der Sprache quasi zum „Expertenwissen“ der Polizei dazugehörte. Dabei ging es stark darum, das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Gleichzeitig wurde das so erschlichene Wissen – zum Beispiel in der NS-Zeit – gegen die Minderheit eingesetzt. Daher rührt Misstrauen und der starke Impuls, Romanes als etwas Eigenes, Intimes zu schützen, im Innern der Community zu halten. Außerdem empfinden es viele Betroffene als eine Geste der Überlegenheit und Einschüchterung, wenn Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und insbesondere Polizeibeamte Gebrauch von Romanes machen. Vor allem, wenn Personen mit ihren Romanes-Namen angesprochen werden, was in Singen und auch andernorts häufiger vorkam, schwingt die Botschaft mit: Wir wissen genau, wer und was ihr seid. Die Betroffenen werden klar als Roma bzw. Sinti typisiert. Und kommuniziert wird auch: Wir verstehen Eure Sprache. Selbst wenn ihr Romanes redet, seid ihr schutzlos. Hierhinter verbirg sich auch das Vorurteil, dass Romanes dazu benutzt würde um etwas zu verbergen. Ebenso sagt die Wortwahl sehr viel aus: hier war es Mulo – also der Tod –, ein anderes Mal war es der Begriff für „Messer“. Es versteht sich von selbst, dass dahinter die Absicht der Bedrohung steckt.
Teil II:
Hankeln: Inwiefern würden Sie den Singener Fall als einen Einzelfall bezeichnen und inwiefern steht er vielleicht paradigmatisch für ein strukturelles Antiziganismusproblem der Singener oder gar der baden-württembergischen Polizei?
Dischereit: In Deutschland ist dies bisher der erste Fall, bei dem ein Minderjähriger unter 14 in Handschellen auf eine Wache gebracht wurde. Das erinnert in dieser Dimension stark an Zustände, wie sie in den USA herrschen. Entsprechend besorgt sind wir, aber entsprechend wurde es auch von politischer Seite sehr ernst genommen. Dass es zuvor ähnliche Fälle von Antiziganismus gegeben hat – auch im institutionell-staatlichen Bereich –, ist ebenso klar. Im Zuge der öffentlichen Aufmerksamkeit haben sich bei uns Sinti aus Singen gemeldet und von weiteren Übergriffen berichtet. Eine Gruppe Sinti war beispielsweise mit dem Auto unterwegs, wurde von der Polizei angehalten und mit den Worten ermahnt: „Zieht weiter, sonst kommt ihr hinter Gitter“. Auch am Vatertag 2019 kam es zu einem massiven und völlig unverhältnismäßigen Einsatz der Polizei. Oder im Kontext der NSU-Ermittlungen hat die Polizei in Heilbronn einen kategorischen Unterschied zwischen Aussagen aus der Mehrheitsgesellschaft und Roma, „Schaustellern“ sowie „Landfahrern“ gemacht; von letzteren befragten Zeugen haben sie sogar Familienstammbäume erstellt. Was wir sehen, ist also eine Serie von Einzelfällen. Aber es sind bisher kaum Studien vorhanden, die uns zeigen könnten, ob und inwiefern das ein strukturelles Problem der Polizei ist.1
Laut der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 denken mehr als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass Sinti und Roma zu Kriminalität neigen.2 Das spiegelt sich dann in der polizeilichen Praxis wider. Man hat damit auf der einen Seite die über hundert Jahre alte Tradition der systematischen Erfassung der Minderheit durch die Polizei – und inwiefern damit in Deutschland völlig gebrochen wurde, ist nach wie vor nicht geklärt – und auf der anderen Seite haben wir ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich in der Polizeiarbeit spiegelt.
Rauschenberger: Wenn man so einen Einzelfall einordnen möchte, ist nicht nur die Frage nach möglichen antiziganistischen Strukturen im Polizeiwesen relevant. Auch die Reaktion der Politik verrät viel über den Zustand einer Gesellschaft. Was können Sie über das Verhalten der Landesregierung sagen? Wie groß ist die Bereitschaft, sich an der Aufarbeitung zu beteiligen und mögliche Missstände in der Polizei, also im eigenen Zuständigkeitsbereich, anzugehen?
Dischereit: Unsere Zusammenarbeit mit der Landesregierung in dieser Sache funktioniert sehr gut. In den ersten 24 Stunden nach der Veröffentlichung unserer Pressemitteilung hatte es vom Innenministerium noch unterschiedliche Aussagen gegeben, aber dann wurde der Vorfall bestätigt und auch andere Ministerien hatten ihre Unterstützung zugesagt. Es kam zu Gesprächen mit dem Innenminister und der Landespolizeipräsidentin, was eine große Offenheit uns gegenüber zeigt. Infolge des Gesprächs werden wir eng in die polizeiliche Ausbildung miteinbezogen werden – auch in deren inhaltliche Ausrichtung. Das hatte sich bereits in den letzten Jahren angebahnt, doch erst in diesem Gespräch konkretisierten sich die Planungen über unsere Einbindung. Bedauerlicherweise hat sich der baden-württembergische Landespolizeiinspektor gegen eine Studie zum Thema „Antiziganismus und Polizei“ ausgesprochen und stattdessen auf die Studie des Bundesinnenministeriums verwiesen. Damit wurde natürlich ein passender Moment für solch einen wichtigen Schritt verpasst; aber wir arbeiten weiter daran (lacht).
Hankeln: Haben Sie konkrete Erwartungen an das Ergebnis des Ermittlungs- und möglichen Strafverfahrens? Fordern Sie über die strukturelle Implementierung von Sensibilisierungsmaßnahmen in der Polizeiausbildung hinaus ein bestimmtes Strafmaß für die im Einzelfall beschuldigten Polizisten?
Dischereit: Wenn es zu einem Prozess kommt, werden wir ihn natürlich beobachten, aber grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Justiz gute und unabhängige Arbeit leistet. Wir vertrauen auf den Rechtsstaat, der sich auch in Ulm bewährt hat [Das Verfahren gegen die Täter des Brandanschlages bei Ulm von 2019 führte zu mehreren Verurteilungen, Anm. d. Verf.], und können uns dadurch auf andere Dinge konzentrieren, wie eben die Sensibilisierung der Polizei und der Öffentlichkeit.
Rauschenberger: Abschließend würde uns interessieren, wie Sie im Landesverband – oder in der Sinti-und-Roma-Bürgerrechtsbewegung überhaupt – auf uns als Vertreter der Antiziganismusforschung blicken. Nehmen Sie wahr, was an den Universitäten passiert, welche Projekte und Publikationen es gibt?
Dischereit: Uns interessiert die Antiziganismusforschung natürlich sehr. Gerade die Entstehung der Heidelberger Forschungsstelle Antiziganismus haben wir mitinitiiert, da diese ein Produkt des ersten Staatsvertrags ist. Überhaupt ist die Forderung nach wissenschaftlicher Aufarbeitung schon immer Bestandteil der Bürgerrechtsbewegung gewesen. Insofern verfolgen wir die Arbeit der Forschungsstelle sehr aufmerksam und lesen die Veröffentlichungen. Gerade zum Antiziganismus nach 1945 schauen wir ganz gespannt auf Ihre Forschung. Zum Beispiel sind wir in der Geschichtsvermittlung an Schulen darauf angewiesen, auf dem aktuellsten Stand zu sein. Die Forschung bildet für uns außerdem die Grundlage, aktuelle Problemlagen auf der politischen Ebene vorzustellen. Der wissenschaftliche Diskurs erleichtert uns dies, weil das Thema dadurch auch in der Gesellschaft gesetzt wird.
Hankeln: Frau Dischereit, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Chana Dischereit ist Wissenschaftliche Referentin für Politik und Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg.
- Chana Dischereit verweist auf eine erste Untersuchung von Markus End, der eine niedrigere Schwelle für den Einsatz von Gewalt gegen Sinti und Roma feststellen konnte, vgl. End, Markus: Fortgesetzte antiziganistische Ermittlungsansätze bei Polizei- und Sicherheitsbehörden. Das Beispiel Baden-Württemberg, in: Bürger & Staat, H. 1/2: Antiziganismus, S. 46-51. [Link] https://www.buergerundstaat.de/1_2_18/antiziganismus.pdf. ↩︎
- Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020, Gießen 2020, S. 65. [Link] https://www.boell.de/sites/default/files/2021-04/Decker-Braehler-2020-Autoritaere-Dynamiken-Leipziger-Autoritarismus-Studie_korr.pdf?dimension1=ds_leipziger_studie. ↩︎
