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Vorkämpfer der Zwangssterilisationen und Apologet der Euthanasie: Der Freiburger Amtsarzt Walter Füsslin

Schreiben Füsslins an das Innenministerium vom 05. Februar 1934, Quelle: GLA 236 Nr. 28566 | Klicken für Gesamtansicht.

Die badischen und württembergischen Landesministerien waren in vielfältiger Weise an der Durchsetzung nationalsozialistischen Unrechts beteiligt. Dies gilt auch für die massenhaften Zwangssterilisationen seit 1933 und für die Krankenmorde der Kriegsjahre, die ohne das Dazutun der Gesundheitsabteilungen der Landesinnenministerien nicht hätten durchgeführt werden können. Bei den Recherchen hierzu wurde eine Vielzahl von Einzelgeschichten zutage gefördert, die in die Abschlusspublikationen des Projekts keine Aufnahme finden konnten, die aber vielleicht auch als bloße Mosaiksteine Aufmerksamkeit verdienen. Eine von ihnen betrifft den Freiburger Mediziner Walter Füsslin (1897-1978), der selbst nicht der Ministerialbürokratie angehörte, aber in deren Akten mehrfach auftaucht.

Füsslin, der zu diesem Zeitpunkt als Bezirksarzt in Freiburg amtierte, wandte sich am 5. Februar 1934 in einem Schreiben an den badischen Innenminister Karl Pflaumer. Als Betreff nannte das Schreiben das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 14. Juli 1933 von der Reichsregierung verkündet worden und zum 1. Januar 1934 in Kraft getreten war. Wie manch andere Gesetze des Jahres 1933 war auch dieses Gesetz, das die rechtliche Grundlage für die Zwangssterilisation von mehreren Hunderttausend Frauen und Männern im folgenden Jahrzehnt schuf, mit heißer Nadel gestrickt und ließ für seine Umsetzung einige Fragen offen. So wurde in dem Gesetz nur grob skizziert, wie die mit weitgehend interpretationsoffenen medizinischen („Schizophrenie“, „zirkuläres Irresein“) oder sozialen („angeborener Schwachsinn“, „schwerer Alkoholismus“) Indikationen stigmatisierten Verdachtsfälle vor die neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichte zu bringen waren. Als Standardverfahren war – in einem für Gesetzestexte untypischen Zynismus – die Selbstanzeige Betroffener vorgesehen; in zweiter Linie sollte die Sterilisation auch beantragt werden können von den Leitern einer „Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt“ sowie von einem „beamteten Arzt“. Letzteres war offenkundig eine wegen der im öffentlichen Gesundheitswesen noch vorwaltenden föderalistischen Uneinheitlichkeit nötige Behelfsformulierung und bezog sich auf Amtsärzte mit regionalen Zuständigkeiten. Ein solcher war Füsslin.

Der badische Innenminister Karl Pflaumer
(GLA Karlsruhe 465 a/51 Nr. 68/1032)

Als für den Freiburger Landbezirk zuständiger Amtsarzt war Füsslin augenscheinlich hoch motiviert, an der Durchführung des Sterilisationsgesetzes mitzuwirken. Kaum sechs Wochen nach dessen Inkrafttreten beklagte er in seinem Schreiben an den Innenminister, dass ihm von den niedergelassenen praktischen Ärzten in seinem Bezirk bislang erst eine Anzeige zugeleitet worden sei, „obwohl es im Bezirk von Erbkranken wimmelt“. Dies liege, so Füsslin, daran, dass allgemein und auch unter der Ärzteschaft „das Wort Schwachsinn“ missverstanden werde. „Nur die schwersten Formen leuchten dem Laien als sterilisationsbedürftig ein. Gerade der Grossteil der so wichtigen Schwachsinnigen wird bestimmt von den Ärzten nicht angezeigt werden, weil es sich um körperlich gesunde Leute zu handeln pflegt, die den Arzt selten aufsuchen. Ebenso wie viele Schwachsinnsformen werden auch die ruhigen Phasen der unter das Sterilisationsgesetz fallenden Geisteskrankheiten vergessen bleiben, wenn es nicht gelingt, den Kreis der Anzeigepflichtigen etwas auszuweiten“.

Füsslin wollte indes nicht nur über den schleppenden Beginn des vom Gesetzgeber intendierten Massensterilisationsprogramms klagen, sondern unterbreitete zwei konkrete Vorschläge, um Abhilfe zu schaffen: Zum einen regte er einen verstärkten Einbezug der Bürgermeister in die Auswahlverfahren an. Sie sollten den Bezirksärzten neben „den befürsorgten Armen auch die anderen in Betracht kommenden Ortsansässigen“ melden müssen. Hierzu bedürfe es allerdings einer weiteren Aufklärung der Bürgermeister über das Sterilisationsgesetz, die Füsslin selbst für seinen Amtsbezirk gerne auf einer Bürgermeisterversammlung vornehmen wollte, da er sich von persönlicher Ansprache mehr erhoffte als von weiteren Informationsschreiben. Zum anderen hielt er es für geboten, „auf die Schulzeugnisse zurückzugreifen“, um „alle Schwachsinnigen erfassen zu können“. Er erbat deshalb vom Ministerium einen Hinweis, „ob auch die Lehrer zu Berichten über die nach den Schulakten Schwachsinnigen aufgefordert werden dürfen, bezw. zur Namensnennung. Die gemeldeten Erbkranken können dann bezirksärztlich untersucht werden, wobei sich ergibt, ob sie unter das Gesetz fallen oder nicht“.

Füsslins Beitrag: „Lebensunwert“, Quelle: Deutsches Ärzteblatt, Heft 8 vom 20.Februar 1971 | Klicken für Gesamtansicht.

Außer mehreren Anstreichungen in Füsslins Schreiben, darunter auch in der Passage über die Zugänglichmachung der Schulzeugnisse, sind in den Akten keine Reaktionen des Innenministeriums auf die Vorschläge des Freiburger Bezirksarztes überliefert. Offenkundig ist jedoch, dass sie den Grundintentionen der „Gesundheitspolitiker“ im Hause entsprachen. Diese nämlich strebten ebenfalls nach einer zügigen und breiten Umsetzung des Sterilisationsprogramms, wie ein Bericht Pflaumers an Reichsinnenminister Wilhelm Frick vom April 1934 verdeutlicht. In einer mit Stolz präsentierten, in der Tat aber grausigen Bilanz meldete der badische Innenminister nach Berlin, dass bei den hiesigen Erbgesundheitsgerichten – drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes – bereits mehr als 1.000 Anträge zur Entscheidung vorlägen und bei den Bezirksärzten mehr als 6.500 Anzeigen aufgelaufen seien. Aus diesen Zahlen ergebe sich, „dass ich an den Vollzug des Gesetzes mit aller Tatkraft und mit der erforderlichen Beschleunigung gegangen bin“. Unter den Herausforderungen, die es dabei zu bewältigen gelte, nannte Pflaumer auch die von Füsslin angeregte „Erfassung aller ehemaligen und derzeitigen Hilfsschüler“, die dadurch erschwert werde, „dass die in Frage kommenden Anstalten, Häuser, Heime, Schulen, Fürsorgestellen usw. den verschiedensten Aufsichtsbehörden unterstehen“. Einheitliche Regelungen „allgemeiner Art von Seiten des Reiches“ hierzu würden eine effektivere Umsetzung des Sterilisationsprogramms ermöglichen, meinte Pflaumer und erklärte es auch für „ganz dringend erforderlich, dass das in Aussicht gestellte ‚Gesetz über die Vereinheitlichung der Gesundheitsverwaltung‘ sofort erscheint, damit ich in der Lage bin, die Gesundheitsämter einzurichten, welche die Gewähr für die reibungslose Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bieten“.

Um Weiteres über Füsslin zu erfahren, der im Frühjahr 1934 einen kleinen Beitrag dazu leistete, dass Baden zum erbgesundheitspolitischen Musterländle wurde, sind Aktenstudien nicht nötig. Eine einfache Internetrecherche mit seinem Namen führt zu einem Bericht über eine heute bizarr anmutende Publikation aus seiner Feder im Feuilleton des „Deutschen Ärzteblattes“ im Jahr 1971. Unter dem Titel „Lebensunwert“ veröffentlichte Füsslin dort ein vorgeblich bereits 1948 geschriebenes „Spiel aus der jüngsten Vergangenheit in drei Akten“, in deren ersten beiden als Füsslins alter ego ein Dr. Walter, „Leiter der Abteilung für Erb- und Rassenfragen“ in einem Gesundheitsamt, auftritt. Im ersten Akt räsoniert dieser mit einem Kollegen über die Anfechtungen, die von der Perversion vermeintlich ethischer Euthanasiegedanken durch die massenhaften Krankenmorde der Nationalsozialisten während des Krieges auf die beamteten Mediziner auswirkten. Der zweite, in der unmittelbaren Nachkriegszeit verortete Akt präsentiert Dr. Walter in alliierter Internierung, wie er einem Mithäftling die Genese der Krankenmorde in zeitgeschichtlicher Perspektive erklärt und seine eigene Schuld darin bekennt, keinen offenen Widerstand geleistet zu haben und deshalb kein Held gewesen zu sein.

Der dritte Akt, ein „Nachspiel im Jenseits“, versucht eine Rehabilitierung der Euthanasie in einem Dialog, den deren Vordenker, der Mediziner Alfred Hoche (1865-1943) und der Jurist Karl Binding (1841-1921) führen. Hoche war „speiübel“ zu sehen, was die Hitlerleute aus unseren Gedanken gemacht haben“, und Binding versichert sich selbst: „Wie human waren unsere Vorschläge im Vergleich zu dem, was man im Dritten Reich daraus gemacht hat“. Nachhaltig diskreditiert sahen beide ihre Ideen dadurch indes nicht. „Kühne neue Ideen“ seien nötig, meinte der fiktive Hoche, „wenn die Menschheit überleben will. Es sind ja nicht nur die nuklearen Kräfte, die sie bedrohen“, sondern auch die „Bevölkerungsexplosion“; er zweifle daran, „ob die alten, christlichen Grundlagen zur Bewältigung ausreichen werden“. Auch Binding sorgte sich um den schrumpfenden Nahrungsspielraum, der Planung und auch Zwang erforderte. Umso notwendiger brauche man, legte ihm der dichtende Mediziner Füsslin in den Mund, „verläßliche Gesetze und charakterfeste Menschen, sowohl in der Führung als auch im Umfeld der Massenbeeinflussungsmittel. Mit der Freiwilligkeit und dem Idealismus allein wird es die Menschheit auf die Dauer nicht schaffen. Das ist meine feste Überzeugung. Und sie muß sich bis zum Jahre 2000 noch viel einfallen lassen“.

Quellen:

GLA 236 28566

Deutsches Ärzteblatt Heft 8 vom 20.2.1971, S. 603-611.

Quelle-GLA-236-28566

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