Von „echten“ und „nicht echten“ Homosexuellen – zur Bedeutung medizinischer Gutachten bei der Verfolgung Homosexueller während der nationalsozialistischen Herrschaft
Die Tätigkeit der Gesundheitsbehörden in der NS-Zeit hat zuletzt verstärkt Aufmerksamkeit gefunden wegen ihrer Beteiligung an Zwangssterilisationen und „Euthanasie“. Aber auch bei der Verfolgung homosexueller Männer spielten sie eine bedeutende Rolle, denn die von Medizinern erstellten Gutachten wirkten sich mitunter deutlich auf das verhängte Strafmaß aus. Im Allgemeinen ist die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus, ähnlich wie die Verfolgung anderer Minderheiten, auch auf ideologische Überzeugungen zurückzuführen. Die Mitglieder der „Volksgemeinschaft“, ob Mann oder Frau, hatten ihren festgefügten Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Wer seine vorgesehene Rolle nicht erfüllen konnte oder wollte, wurde als „minderwertig“ eingestuft und letztlich aus der „Volksgemeinschaft“ ausgestoßen. Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe beider Geschlechter bestand nach nationalsozialistischer Vorstellung darin, eine Familie zu gründen, um Nachwuchs hervorzubringen und damit das Fortbestehen der deutschen Bevölkerung zu sichern. Vor allem gleichgeschlechtlich orientierte Männer – es herrschten deutliche geschlechterspezifische Unterschiede – sahen sich häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Zeugungskraft zu vergeuden und wurden für das „Aussterben der Völker“ verantwortlich gemacht. Nicht selten stigmatisierte man sie mit Titulierungen wie „asozial“, „Jugendverführer“ oder „Schädling“.
Zudem herrschte damals unter den nationalsozialistischen Machthabern der Konsens, dass Homosexualität eine „Seuche“ und „Krankheit“ sei. Auch eine größere Zahl an Psychologen und Ärzten, welche die Ursachen gleichgeschlechtlicher Neigungen auszumachen versuchte, teilte diese Meinung. Mit der Wahrnehmung von Homosexualität als „Krankheit“ ging allerdings auch die Überzeugung einher, dass eine Möglichkeit der Heilung bestünde. Grundsätzlich sahen die Nationalsozialisten keine restlose Ausmerzung oder Vernichtung Homosexueller vor; vielmehr setzten sie sich das Ziel, Betroffene umzuerziehen und ihnen damit ihre Veranlagung auszutreiben. Aus diesem Grund wurden gleichgeschlechtliche Handlungen mit strafrechtlichen Konsequenzen, unter anderem mit erzieherischen Maßnahmen, geahndet. Die Voraussetzungen hierfür waren bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen worden. Der 1871 in das deutsche Strafgesetzbuch eingeführte „Homosexuellenparagraf“, § 175, unter welchem mann-männlicher Geschlechtsverkehr belangt wurde, bildete die Basis für die spätere Erweiterung des Strafrahmens (§175a) sowie die Verschärfung des Strafmaßes in der NS-Zeit. Die 1935 modifizierte Fassung des § 175 hatte zur Folge, dass nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern jegliche homosexuelle Handlung oder auch der reine Verdacht einer gleichgeschlechtlichen Betätigung unter Männern bestraft werden konnte. Frauen, die „widernatürliche Unzucht“ betrieben, wurden in diesem Paragrafen zu keiner Zeit erfasst. Dass sie von strafrechtlicher Verfolgung verschont blieben, schloss ihre Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der „Volksgemeinschaft“ allerdings nicht aus.
Im Kontext der strafrechtlichen Homosexuellenverfolgung ist eine typisch nationalsozialistische Vorgehensweise auszumachen: Betroffene wurden von den zuständigen Behörden je nach Grad und Ausmaß ihrer gleichgeschlechtlichen Betätigung der Kategorie der „echten“ oder „nicht echten“ Homosexuellen zugeordnet. Sogenannte „echte“ Homosexuelle waren den polizeilichen Behörden meist mehrfach durch ihre gleichgeschlechtliche Betätigung aufgefallen und somit stets „rückfällig“ geworden. Auch hatten die Betroffenen dieser Kategorie meist Handlungen durchgeführt, deren Schweregrad nach nationalsozialistischer Auffassung besonders hart zu bestrafen sei. Als „nicht echte“ Homosexuelle galten primär Betroffene, die sich einmalig betätigt hatten, zu einer gleichgeschlechtlichen Handlung gezwungen worden waren oder sich bei Verhören besonders reumütig zeigten. Sie konnten noch für die „Volksgemeinschaft“ gewonnen und resozialisiert werden, was bei „echten“ Homosexuellen nicht der Fall war. Die Kategorisierung schlug sich im Strafmaß nieder: „Hoffnungslose Fälle“ hatten mit besonders harten Sanktionen zu rechnen, während „nicht echte“ Homosexuelle mit vergleichsweise milden Bestrafungen davonkamen. Für die Beurteilung der Betroffenen wurden meist Psychologen und Mediziner zu Rate gezogen, welche die Ausprägung der homosexuellen Neigung bestimmen sollten. Damit hatten sie erheblichen Einfluss auf das weitere Schicksal der verhafteten Männer. Mögliche Konsequenzen waren beispielsweise die Entfernung der Person aus ihrer beruflichen Position, eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren, die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung, die Deportation in ein Konzentrationslager, Kastration oder im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe.
Inwiefern sich die Kategorisierung Homosexueller auf das weitere Schicksal der Betroffenen auswirken konnte, zeigt folgender Fall: Richard B., in Heidelberg lebend, geriet dort aufgrund seiner gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu anderen Männern mehrfach in die Fänge der Strafverfolgungsbehörden. Nachdem er wiederholt zu Haftstrafen im Bezirksgefängnis Heidelberg verurteilt worden war, lieferte man ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch ein. Dort wurde B. wiederholt zu seiner Vergangenheit und zu seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung befragt und untersucht. Auf dieser Basis wurde von dem Oberarzt der Anstalt ein medizinisches Gutachten angefertigt. Die Akte B.s aus der Anstalt enthält eine ausführliche Schilderung seiner Vergangenheit, seiner homosexuellen „Vergehen“ und der darauffolgenden Sanktionen, einen Beobachtungsbericht, eine psychologische Beurteilung, einen Fragebogen nach einem spezifischen klinischen Untersuchungsschema, das man mit B. durcharbeitete, sowie eine Sippentafel zu seiner Person. Im Gutachten machte der Arzt deutlich, „dass es sich um einen echten Homosexuellen handelt“. Für ihn war die Diagnose klar: B. „ist ein ausgesprochener homosexueller Psychopath“, da er nicht nur mehrfach gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unterschiedlichen Männern unterhalten, sondern angeblich auch Jugendliche zur Homosexualität „verführt“ hatte. Damit verkörperte B. nach nationalsozialistischer Auffassung eindeutig einen „echten“ Homosexuellen, da ihm die Homosexualität trotz der vielfachen Bestrafungen nicht auszutreiben war. Als vermeintliche Ursachen für seine Neigung wurden seine familiäre Situation, aber auch psychopathische Störungen sowie „Mangel an biologischer Vollwertigkeit“ vermerkt. Die Hoffnung, B. nach nationalsozialistischen Kriterien zur Heterosexualität erziehen zu können, blieb nach der Beurteilung des Arztes aus. Die daraus folgenden Konsequenzen trafen B. besonders schwer: Er wurde zur „Sicherungsverfahrung“ in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert, wo er im Januar 1943 verstarb.
Ähnlich wie B. wurde auch Sigmund W., ein verheirateter Gutsbesitzer aus Leutershausen, der seine ausländischen Zwangsarbeiter mehrfach zu homosexuellen Handlungen gedrängt hatte, als „unheilbar“ eingestuft. Frühere Auffälligkeiten in homosexueller Hinsicht und die überaus große Anhäufung seiner als „widernatürlich“ wahrgenommenen Aktivitäten trugen dazu bei, dass der Betroffene nicht nur ausführlich von den Beamten der Mannheimer Gestapo verhört wurde, sondern auch einer psychologisch-medizinischen Begutachtung unterzogen wurde. Letztendlich hatte sich W. vor dem Sondergericht Mannheim zu verantworten. Auch zu dem Gutsbesitzer liegen ärztliche Gutachten vor, mithilfe derer man versuchte, die Ursachen und den Grad seiner sexuellen Neigungen zu bestimmen und nach medizinischen Kriterien zu beurteilen. Der Amtsarzt des Gefängnisses führte deshalb mehrere Befragungen durch, um den Geisteszustand und die Verantwortlichkeit des Betroffenen festzustellen. Frappierend ist, dass W. in dem Gutachten nicht als „echter“ Homosexueller, sondern als „bisexuell“ bezeichnet wird. Der Amtsarzt rechtfertigte seine Einstufung damit, dass W. zusätzlich zu seinen strafbaren Handlungen mit seiner Ehefrau noch regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. In Anbetracht der massiv aufgetretenen „Rückfälligkeit“ in Form aktiver sowie passiver Sexualhandlungen mit ausländischen Zwangsarbeitern in fortgesetzter Tat hielt der Amtsarzt eine Umerziehung jedoch nicht mehr für möglich. Dies hätte sich mit Sicherheit auf die Bestrafung ausgewirkt, wenn W. sich nicht im Mai 1943 in seiner Zelle erhängt hätte. Straferschwerend wäre noch hinzugekommen, dass W. bei einigen seiner Arbeiter gewaltsam vorging und unter anderem auch mit zwei Minderjährigen sexuell verkehrt hatte. Der Betroffene schien unter seiner Neigung schwer gelitten und den einzigen Ausweg im Tod gesehen zu haben. Auch wenn das gegen ihn eingeleitete Verfahren eingestellt wurde, zeigt sich, dass das Sondergericht Mannheim eine ärztliche Meinung hinzugezogen hatte, um die homosexuelle Veranlagung und die Taten W.s besser beurteilen zu können. Es ist davon auszugehen, dass sich das Gutachten des Gefängnisarztes ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Verhängung des Urteils gespielt hätte.
In einigen Fällen wurde auch auf ärztliche Meinungen verzichtet. Das war dann der Fall, wenn sich die zuständigen Behörden einig waren, dass der Betroffene nicht zu den „echten“ Homosexuellen zählte. Das ergab sich aus den Ermittlungen der Mannheimer Kriminalpolizei gegen den sechzehnjährigen Helmut O., die im Frühjahr 1943 auf Anzeige seines Vaters eingeleitet wurden. O. hatte sich über einen gewissen Zeitraum mit einem deutlich älteren Mann getroffen, mit welchem er homosexuelle Handlungen durchgeführt hatte. Zum Geschlechtsverkehr war es allerdings nicht gekommen. Bei den Befragungen zeigte sich der Betroffene sehr reumütig. Zusätzlich gab er an, nicht genau gewusst zu haben, was er eigentlich tat. Vor Gericht schenkte man den Angaben des Jugendlichen Glauben. Er wurde von den Behörden als der „Verführte“ angesehen, während dem älteren Mann die Rolle des „Verführers“ zugeschrieben wurde. Daher kam O. letztlich mit einer Verurteilung zu einem vierwöchigen Arrest davon. Die Anordnung erzieherischer Maßnahmen hielt der Richter nicht für notwendig, da O. dem Reichsarbeitsdienst angehörte, wo man ihm „Zucht und Ordnung“ vermitteln würde.
Anhand der hier exemplarisch aufgeführten Schicksale der von der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung betroffenen Personen lässt sich Folgendes erkennen: Die von Medizinern erstellten Gutachten waren besonders für die Einordnung in eine der beiden Kategorien der „echten“ und „nicht echten“ Homosexuellen, demnach auch für die allgemeine Beurteilung des Grads der homosexuellen Veranlagung der untersuchten Männer von zentraler Bedeutung. Die jeweilige Einschätzung eines Arztes oder Psychologen wirkte sich auch auf die von den Gerichten angeordneten Sanktionen aus.
Quellen:
Generallandesarchiv Karlsruhe 276 Nr. 3681; 463, Zug. 1983/20 10143; 507, Zug. 10100-10102.
Literatur:
Grau, Günther (Hrsg.): Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt am Main2 2004.
Grau, Günther (Hrsg.): Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder, Berlin / Münster 2011.
Jellonnek, Burkhard: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990.
Zinn, Alexander: „Aus dem Volkskörper entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus, Frankfurt / New York 2018.
Laufende regionalgeschichtliche Projekte zur Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit:
https://www.lsbttiq-bw.de/lsbttiq-geschichte-in-baden-und-wuerttemberg-erforschen/das-forschungsprojekt/ (zuletzt aufgerufen am: 15.03.19).
https://www.der-liebe-wegen.org/ (zuletzt aufgerufen am: 15.03.19).
Bildquelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Gedenktafel_Rosa_Winkel_Nollendorfplatz.jpg.
Fas ist ein wirklich super interessantes Thema und sehr spannend geschrieben. Gut jedoch, dass sich die Ansicht auf Homosexualität bei den meisten Menschen in der heutigen Zeit grundlegend geändert hat!