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„Immer ein verfolgter Nazi?“: Die Wege des nationalsozialistischen Beamten Erwin Otto Schmidt in drei Kapiteln

Entscheidung des Disziplinarhofs im Dienststrafverfahren gegen Erwin Schmidt (GLA 235 20271) | Klicken für Gesamtbild

Der Verfasser dieser Zeilen hat, wie seine Kolleginnen und Kollegen an den anderen Projektstandorten vermutlich auch, bei den Archivrecherchen manche Beamtenbiographie eher geschäftsmäßig zur Kenntnis genommen, weil sich die Karriereverläufe doch häufig ähneln und das überlieferte amtliche Aktenmaterial nur selten einmal nähere Anschauungen von Persönlichkeitsprofilen erlaubt. Umso einprägsamer sind die Ausnahmefälle, in denen die Beamten für den Rechercheur nicht blasse Figuren bleiben, sondern mit charakterlichen Besonderheiten hervortreten, die als Normabweichungen in den Akten Niederschlag gefunden haben. Einer dieser Ausnahmefälle sei an dieser Stelle heute und in den folgenden Wochen in drei kürzeren Beiträgen porträtiert: der vom Gewerbeschullehrer zum Oberregierungsrat im badischen Kultusministerium avancierte NSDAP-Altparteigenosse Erwin Otto Schmidt, dessen notorisches Querulantentum einen beträchtlichen Aktenanfall verursacht hat.

Kapitel 1: Ein nationalsozialistischer Gewerbeschullehrer als Staatsfeind

Erwin Otto Schmidt wurde 1894 als Sohn eines Maschinentechnikers in Pforzheim geboren. Nach Abschluss der Volksschule wollte Schmidt den Lehrerberuf ergreifen und besuchte zunächst das Vorseminar in Villingen und anschließend das Lehrerseminar Freiburg, wo er im März 1914 die Abgangsprüfung als Volkschullehrer bestand. Als Unterlehrer in Kehl fand er eine erste Beschäftigung, die jedoch schon im September 1914 mit seinem Eintritt in den Kriegsdienst endete. Im Oktober 1914 wurde Schmidt bei einem Gefecht bei Reims durch einen Granatsplitter schwer verwundet und nach einem mehr als einjährigen Lazarettaufenthalt im Frühjahr 1916 aus dem Heeresdienst entlassen. Er kehrte in den Volksschuldienst zurück, den er 1919 unterbrach, um sich weiter zu qualifizieren: Im Juli 1921 bestand Schmidt die Gewerbelehrerhauptprüfung und trat anschließend zunächst als Hilfslehrer in die Gewerbeschule seiner Vaterstadt Pforzheim ein. Zum planmäßigen Gewerbelehrer wurde Schmidt 1927 ernannt. Mit der im Februar 1930 bestandenen Staatsprüfung für das höhere Lehramt an Gewerbeschulen erklomm Schmidt ein weiteres Stück auf der kurzen Karriereleiter, die sich Lehrern bot, denen mangels eigener höherer Schuldbildung ein Studium verwehrt blieb.

Eine mustergültige Aufstiegsbiographie mag dies nicht gewesen sein, aber doch durchaus eine berufliche Erfolgskarriere, die einen offenkundig fleißigen jungen Mann mit einfachem Bildungshintergrund in gesicherte Beamtenverhältnisse brachte. Auch familiär hatte sich Schmidt etabliert: Er hatte 1922 geheiratet, und 1928 war seine Tochter geboren worden. Warum sich Schmidt in dieser Konstellation dem politischen Radikalismus zuwandte, ist mangels aussagekräftiger Quellen nicht nachvollziehbar: Für die These, dass der Nationalsozialismus in den Jahren der Wirtschaftskrise um 1930 insbesondere auf junge Männer in prekären sozialen Verhältnissen starke Anziehungskraft ausgeübt habe, finden sich in Schmidts biographischen Rahmendaten keine Anhaltspunkte. Möglicherweise bestanden bei ihm schon seit längerem rechtsradikale Neigungen und Überzeugungen, die Schmidt erst nach außen trug, als er als Beamter in gesicherte materielle Verhältnisse gelangt war und der politische Anpassungsdruck, der zuvor auf ihm als aufstiegswilligem Volksschullehrer gelastet hatte, wegfiel. Wie dem auch sei: Nahezu zeitgleich mit seiner Aufnahme in das höhere Lehramt jedenfalls trat Schmidt im März 1930 in die NSDAP ein und übernahm in der Partei in Pforzheim schon zwei Monate später das Amt eines Ortsgruppenleiters.

Adam Remmele, 1919/28. GLA 231 Nr. 2937 (869) | Klicken zum Vergrößern

Als solcher zog Schmidt sogleich das Misstrauen seines obersten Dienstherrn auf sich, des badischen Kultusministers Adam Remmele (SPD), der der schleichenden Ausbreitung des Nationalsozialismus, der in Baden mit dem Einzug einer sechsköpfigen NSDAP-Fraktion in den Landtag am Jahresende 1929 Aufwind erhalten hatte, in der Beamtenschaft mit den Mitteln des Dienststrafrechts begegnen wollte. So wurde der junge Parteifunktionär Schmidt zur Rechenschaft gezogen für eine von ihm organisierte Veranstaltung der NSDAP in Pforzheim am 21. Juni 1930: Es handelte sich dabei um eine Protestversammlung gegen das kurz zuvor vom badischen Innenminister Franz Josef Wittemann (Zentrum) ausgesprochene Verbot nationalsozialistischer Uniformen, das Schmidt als „einseitige Maßnahme von großer Willkürlichkeit und Ungerechtigkeit“ kritisierte. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, dem Versammlungshauptredner Gauschriftleiter Kramer eine Bühne für diverse Ausfälle gegen die badische Regierung geboten und im Anschluss an die Versammlung einen Protestzug durch Pforzheim organisiert zu haben.

Der mit der Untersuchung des Falles beauftragte und hierzu mit den „Verrichtungen der Staatsanwaltschaft betraute“ Beamte des Kultusministeriums, Oberregierungsrat Otto Zimmermann, erblickte hierin eine erhebliche Verletzung der einem Staatsbeamten obliegenden Pflichten: Im Recht der freien Meinungsäußerung seien einem Staatsbeamten engere Schranken gesetzt durch sein besonderes Treueverhältnis, das jede Tätigkeit verbiete, die gegen den Bestand des Staates gerichtet sei oder ihn gefährde; der Staatsbeamte habe sich überdies „jeder Handlung zu enthalten, die den Regierungsorganen in der ordnungsgemäßen Führung und Leitung der Staatsgeschäfte Schwierigkeiten bereiten“ könne. Für Zimmermann war die NSDAP zweifelsohne eine staatsfeindliche Partei, und deshalb wollte er das Verfahren gegen Schmidt zu einem Präzedenzfall machen: „Im Hinblick auf die große politische Bedeutung, die einem solchem Vorgang zukommt, und in besonderer Erwägung darüber, daß für die Beamten einmal eindeutig festgestellt werden muß, was ihr dem Staat gegenüber eingegangenes Treuverhältnis bedeutet“, empfahl er, vor dem Disziplinarhof für nichtrichterliche Beamte die Entfernung Schmidts aus dem Amt zu beantragen.

Dieser befasste sich im Oktober 1930 mit dem Fall Schmidt, kam aber zu einer ganz anderen Einschätzung des Sachverhalts als der ermittelnde Beamte des Kultusministeriums. Zwar teilte der Disziplinarhof grundsätzlich die Einschätzung, dass die NSDAP eine staatsfeindliche Partei sei, vermochte aber in der Übernahme von Funktionärsstellungen in dieser oder Werbetätigkeiten für diese Partei nicht zwangsläufig ein Dienstvergehen zu sehen, da dies das politische Betätigungsrecht von Beamten auf eine bloße Gesinnungsfreiheit beschränken würde. Rein abstrakt lasse sich die Frage, was ein Beamter tun dürfe, ohnehin nicht klären, zumal es auch Fälle geben könnte, in denen es geradezu im Interesse des Staates sei, wenn ein Beamter in eine staatsfeindliche Partei eintrete, nämlich wenn, so die höchst eigenwillige Ausführung dieses Arguments, „energische Männer sich an ihre Spitze stellen mit dem ausgesprochenen Ziel und Zweck, diese illegalen Bestrebungen in gesetzliche Bahnen zu lenken“. Nötig sei also die Gesinnungsprüfung im Einzelfall, um herauszufinden, „welche Ziele der einzelne, in der Partei tätig werdende Funktionär und Werber verfolgen will“.

In Schmidts Fall machte sich der Disziplinarhof die Einschätzung eines Zeugen zu eigen, „dass mit dem Angeklagten in die NSDAP ein ruhiger und ordnungsliebender Mann eingetreten“ sei. Abseits der Grundsatzfrage von Mitgliedschaft und Funktionsübernahme in der NSDAP fand der Disziplinarhof Anhaltspunkte für eine Dienstpflichtverletzung jedoch in Schmidts Verhalten bei der Parteiveranstaltung am 21. Juni 1930. Den schweren Beleidigungen der badischen Regierung durch den Hauptredner hätte er nicht die Bühne bereiten dürfen, so der Tenor der Urteilsbegründung, die jedoch auch dafür mildernde Umstände ausmachte: eine gewisse „Zagheit“ des im Parteiamt noch unerfahrenen Angeklagten sowie eine „Nervenstörung“ infolge seiner Kriegsverletzung. Entsprechend milde fiel das Urteil aus: Schmidt wurde mit einem Verweis und einer Geldstrafe in Höhe von 100 Reichsmark bedacht.

Herbert Kraft (GLA 231 Nr. 2937 (982)) | Klicken zum Vergrößern

Für die Leitung des Kultusministeriums, die an Schmidt ein Exempel statuieren wollte, um die Ausbreitung des Nationalsozialismus in der badischen Beamtenschaft einzudämmen, war das Urteil des Disziplinarhofs ein Fiasko, bedeutete es doch einen Freifahrtschein für rechtsradikale Beamte, die sich nun ermutigt fühlen konnten, nicht nur in die NSDAP einzutreten, sondern auch Ämter in der Partei zu übernehmen – wenngleich sie darauf achten mussten, in der politischen Agitation selbst nicht allzu aggressiv aufzutreten. Remmele kapitulierte in dieser Situation allerdings nicht, sondern zog zumindest im Fall Schmidt noch Konsequenzen: Der vom Disziplinarhof geschonte Gewerbeschullehrer nämlich wurde aus Pforzheim nach Mannheim versetzt, offenkundig in der Absicht, das NSDAP-Parteinetzwerk in dessen Vaterstadt zu schwächen und ihm selbst in der nordbadischen Hochburg der Sozialdemokratie ein weiteres rechtsradikales politisches Engagement zu erschweren. Zumindest in dem zweiten Punkt ging dieses mutmaßliche Kalkül nicht auf: In Mannheim fand Schmidt rasch Anschluss an Gesinnungsgenossen und avancierte bereits im Frühjahr 1931 zum stellvertretenden Kreisleiter der NSDAP. Als politischer Redner trat er allerdings offenkundig vor dem 30. Januar 1933 nicht mehr in Erscheinung, um dem Kultusministerium keinen Anlass für die erneute Einleitung eines Dienststrafverfahrens zu geben. Darin unterscheid er sich von seinem Parteifreund Herbert Kraft, der, ebenfalls Lehrer (Gymnasialprofessor) in Pforzheim und ebenfalls nach Mannheim strafversetzt, seinen Sonderstatus als nationalsozialistischer Landtagsabgeordneter dazu nutzte, offen gegen das bestehende politische System und dessen Repräsentanten zu agitieren. Eine Gemeinsamkeit mit Kraft bestand allerdings darin, dass auch Schmidt unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Karlsruhe einen Karriereschub erlebte, der ihn in die Kultusministerialbürokratie aufrücken ließ. Hierzu trug, wie in Kürze an dieser Stelle geschildert werden wird, maßgeblich der Status eines „verfolgten nationalsozialistischen Beamten“ bei, den Schmidt seit dem 30. Januar 1933 sorgsam pflegte, obwohl ihn doch der Disziplinarhof im Oktober 1930 sehr schonend behandelt hatte.

 

Quelle: GLA 235 20271

 

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