Eine Honigfalle im badischen Staatsministerium: Wie der Ministerialrat Karl Frech um Amt und Ruhegehalt gebracht wurde
Als Nebenpublikation des Forschungsprojekts erscheinen in wenigen Tagen in der Quellenreihe der Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg die Lebenserinnerungen des badischen Ministerialbeamten Friedrich Karl Müller-Trefzer, der in unserem Blog schon mehrfach präsent war, zuletzt als Besitzer einer nationalsozialistischen Beamtenuniform. Seine Lebenserinnerungen sind – auch darüber wurde im Blog schon berichtet – der Selbstrechtfertigungsversuch eines „Kollaborateurs der ersten Stunde“, der sich mit seinem Eintritt in die NSDAP zum 1. Mai 1933 seine berufliche Position nicht nur erhalten konnte, sondern während der nationalsozialistischen Machtübernahme aufstieg: vom Oberregierungsrat und zweiten Mann in der Ministerialabteilung des badischen Staatsministeriums zum Ministerialrat und ersten Mann ebenda. Der Weg dorthin wurde frei, weil sein unmittelbarer Dienstvorgesetzter aus politischen Gründen entlassen wurde. Aus Müller-Trefzers Lebenserinnerungen erfährt man dazu: Ministerialrat Karl Frech, ein „gescheiter Mensch, aber kalt von Gemüt“, der ihm „auf persönlichem Gebiet immer fremd“ geblieben war, sei am 11. März 1933 beurlaubt worden, bald danach sei „wegen eines schweren kriminellen Vergehens, das später zu gerichtlicher Bestrafung führte“, die Dienstenthebung erfolgt.
Was es mit diesem „schweren kriminellen Vergehen“ auf sich hatte, erschließt sich aus Müller-Trefzers Lebenserinnerungen nicht, sehr wohl aber aus Frechs Personalakte, die einen plastischen Eindruck davon vermittelt, mit welcher Rücksichtlosigkeit und Perfidie die neuen nationalsozialistischen Machthaber in den Landesministerien 1933 ihre Personalpolitik betrieben. Frech, 1877 geboren, Jurist im badischen Staatsdienst seit 1904, zuletzt Landgerichtsrat, Ministerialrat im Staatsministerium seit 1923, Mitglied der Zentrumspartei und Vertrauensmann des Staatspräsidenten Josef Schmitt, wurde am 11. März 1933, dem Tag der Entmachtung der bisherigen Regierung durch Reichskommissar Robert Wagner, vom Dienst beurlaubt. Seine definitive Verdrängung aus dem Staatsdienst erfolgte rasch: Am 18. April 1933, also kaum zwei Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, wurde Frech nach § 4 dieses Gesetzes wegen politischer Unzuverlässigkeit in den Ruhestand versetzt. Er hatte damit Anspruch auf drei Viertel des ihm zustehenden Ruhegehalts. Da Frech 31 Dienstjahre vorweisen konnte, wurden ihm monatliche Ruhestandsbezüge von 499 Reichsmark zugesprochen.
Die neue Leitung des Staatsministeriums – Reichskommissar Wagner, Müller-Trefzer, der zunächst kommissarisch in Frechs Stellung aufgerückt war, und der NSDAP-Parteijournalist Franz Moraller, der die Pressestelle des Hauses übernommen hatte – wollten es offenkundig nicht bei der Verdrängung Frechs aus dem Amt belassen, sondern sahen auch noch die Chance, ihn durch ein Strafverfahren zu diskreditieren. Bereits am 1. April berichtete das NSDAP-Parteiblatt „Der Führer“ unter Berufung auf eine Mitteilung der Pressestelle des Staatsministeriums, dass Frech am Vortag „in Schutzhaft genommen“ worden sei. In seiner Karlsruher Wohnung habe eine „gründliche Haussuchung“ stattgefunden. Über die „Gründe dieser Festnahme können vorläufig keine näheren Angaben gemacht werden. Ministerialrat Frech gehört der Zentrumspartei an“.
Anders als der „Führer“-Bericht suggerierte, dürfte es bei der Hausdurchsuchung nicht um politisch belastendes Material gegangen sein, sondern vielmehr um Beweise oder wenigstens Indizien für homosexuelle Neigungen Frechs, auf die möglicherweise Müller-Trefzer, der Frech seit zehn Jahren im täglichen dienstlichen Umgang kannte, Wagner und Moraller aufmerksam gemacht hatte. Umgehend ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen Frech und beantragte ein Verfahren wegen „tätlicher Beleidigung“, das am 17. Mai 1933 vor dem Karlsruher Schöffengericht gegen Frech geführt wurde. Zur Last gelegt wurde ihm, dass er einen 16-jährigen Karlsruher Schüler, der sich schon im Vorjahr an das Staatsministerium mit der Bitte um Intervention zugunsten seines in Italien inhaftierten Vaters gewandt hatte, bei zwei Begegnungen in seiner Wohnung am 15. und 22. März 1933 „mittels einer Tätlichkeit beleidigt“ habe – in einem Fall habe er den Schüler „umarmt, an sich gedrückt, dessen linkes Bein über seine Schenkel gezogen und die Hand über den Hosen“ gegen dessen Geschlechtsteil „gedrückt“; im anderen Fall habe Frech „das Gleiche getan, sodann weitergehend unter den Hosen an den blosen Beinen bis zur Mitte des Oberschenkels“ gegriffen, „den Hosenschlitz“ zu öffnen versucht, „dessen Hosenbund geöffnet und über den Hosen an den Geschlechtsteil“ des Schülers gegriffen.
Nach den Erhebungen des Karlsruher Schöffengerichts stellte sich der Fall wie folgt dar: Frech hörte von einer Sprachlehrerin, die ihm seit geraumer Zeit Italienischunterricht erteilte, von der Absicht des Schülers, seinen Vater, der 1919 von einem Mailänder Kriegsgericht zu 30 Jahren Kerkerhaft verurteilt worden war, zu Ostern 1933 in der Haft zu besuchen. Um mit ihm die Vorlage eines Gnadengesuchs an den italienischen König zu erörtern, ließ Frech den Schüler bitten, ihn im Staatsministerium aufzusuchen. Das Gespräch fand am 23. Februar in Frechs Geschäftszimmer im Beisein eines des Italienischen mächtigen Buchhalters, der bei der Formulierung des Gesuchs behilflich sein sollte, statt. Zum Abschluss wurde die Angelegenheit an diesem Tage nicht gebracht, und mit der Beurlaubung Frechs am 11. März sah der Schüler seine Hoffnung schwinden, mit dem Gesuch seinem Vater helfen zu können. Als er dies seiner Italienischlehrerin mitteilte, sprach diese Frech darauf an, der sich bereit erklärte, den Schüler weiter zu unterstützen, und ihn in seine Wohnung einlud. Bei dem Treffen am 15. März, das von 16 bis 23 Uhr dauerte, kam es dann zu den inkriminierten Vorfällen – Frech stellte in Abrede, dass es seine Absicht gewesen sei, „unsittliche Handlungen vorzunehmen“ und die „unglückliche Lage“ des Schülers auszunützen, konzedierte aber, „dass eine ‚erotische Stimmung‘ geherrscht habe und er auch glaube, dass der Zeuge ‚etwas erregt‘ gewesen sei. Das gleiche sei auch der Fall gewesen bei dem zweiten, eine Woche später am 22.3.33 stattgefundenen Zusammensein“.
Die Frage, warum der Schüler Frech ein zweites Mal aufgesucht habe, obwohl ihm dessen Annäherungsversuche zuwider gewesen seien, wurde vom Gericht geprüft und dahingehend gewertet, dass darin „keine Zustimmung und Einwilligung des Zeugen zu der Handlungsweise des Angeklagten erblickt werden“ könne. Vielmehr sei der Schüler nur deshalb ein zweites Mal zu Frech gegangen, „weil er eben in dem Angeklagten den Mann sah, der nach seiner Stellung und nach seiner Versicherung bereit und in der Lage war, ihm bei der Abfassung und Weiterleitung des Gnadengesuchs für seinen unglücklichen Vater zu helfen“. Selbst wenn dem Schüler das Verständnis „für das Rechtswidrige und Strafbare der Handlungsweise des Angeklagten gefehlt hätte und aus seinem Wiederkommen auf eine Einwilligung seinerseits geschlossen werden könnte, so wäre dies … rechtlich ohne Belang, da der Zeuge minderjährig ist und eine Einwilligung eines Minderjährigen zu einer Kränkung seiner Ehre ohne Bedeutung wäre“. Aus dem gleichen Grund ließ es das Gericht auch offen, „ob und inwieweit etwa die Unterredung zwischen dem Zeugen und dem Pressechef Moraller, die nach Angaben des Zeugen unmittelbar vor dem zweiten Besuch bei dem Angeklagten stattgefunden haben soll, auf den Entschluss des Zeugen von Einfluss gewesen ist, noch ein zweitesmal zu dem Angeklagten zu gehen“.
Für die juristische Bewertung des Falles mag dies irrelevant sein, für die historische Beurteilung wäre es aber doch wichtig zu wissen, ob der nationalsozialistische Neuankömmling im Staatsministerium Moraller dem beurlaubten Zentrumsanhänger Frech eine Honigfalle gestellt hatte. Auch wenn hierfür nur Indizien vorliegen, wird man mit der Annahme nicht weit fehlgehen, dass es sich um eine Intrige handelte, die Moraller und seinen Mitstreitern den gewünschten Erfolg brachte: Das Karlsruher Schöffengericht verurteilte Frech wegen „fortgesetzter mittels einer Tätlichkeit begangenen Beleidigung“ – dies war schon in der Gerichtspraxis der Vorjahre das Mittel der Wahl gewesen, um homosexuelle Handlungen zu ahnden, die unterhalb der Schwelle der nach §175 des Reichsstrafgesetzbuches relevanten Vergehen lagen – zu einer Geldstrafe von 1.000 Reichsmark. Die Summe, die etwas höher lag als das Monatsgehalt eines Ministerialrats, der Frech inzwischen nicht mehr war, mutet sehr hoch an; allerdings hatte das Gericht sogar noch mildernde Umstände geltend gemacht, nämlich dass der „Angeklagte infolge seiner Erkrankung und Körperbeschaffenheit und der dadurch bedingten Ehelosigkeit zu den von ihm zugegebenen, nach seiner Versicherung stets von ihm bekämpften Neigungen gekommen ist und dass er durch die sechswöchentliche Schutzhaft infolge seines allgemeinen Gesundheitszustandes bereits schwer gelitten hat und die strafgerichtliche Verurteilung aller Voraussicht nach bei ihm noch weitere schwere Folgen haben wird“.
Frech musste indes nicht nur unter den Folgen der strafgerichtlichen Verurteilung leiden, sondern auch noch ein Dienststrafverfahren über sich ergehen lassen. Als hätten die neuen Herren – inzwischen wurde das Staatsministerium von Ministerpräsident Walter Köhler geleitet – nicht genug mit ihrem vermeintlichen nationalen Aufbauwerk zu tun gehabt, setzten sie etliche Hebel in Gang, um die Vergangenheit des ohnehin schon kaltgestellten Zentrumsbeamten Frech zu durchleuchten. Das Ergebnis der Ermittlungen präsentierte der Staatsanwalt im Dienststrafverfahren – hierbei handelte es sich um den inzwischen ins badische Justizministerium avancierten Altparteigenossen der NSDAP Eitelhans Grüninger – Mitte September 1933: „Standesunwürdige Handlungen“ des Angeschuldigten seien in den Kontakten zu vier jungen Männern, Studenten und Lehramtspraktikanten, in den Jahren 1925 bis 1931 festgestellt worden. Einer der Fälle sei schon damals aktenkundig geworden; allerdings sei der Vorgang von dem früheren Generalstaatsanwalt „in seinem Schreibtisch in Verwahrung gehalten“ worden. Für Grüninger erfüllten alle vier Fälle ebenso wie der im Mai 1933 vor Gericht gekommene den Tatbestand der tätlichen Beleidigung. Eine strafrechtliche Verfolgung könne aber „schon wegen des Ablaufs der Strafantragsfrist … nicht mehr in Frage kommen“.
In das Meinungsbild der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte in Karlsruhe gingen die älteren Fälle jedoch mit ein. Sie wertete Frechs Verhalten als nicht vereinbar mit „seiner Stellung als Beamter im Allgemeinen und vor allem mit einer so hervorragend exponierten Stellung, wie er sie als Ministerialrat im Staatsministerium und als ständiger Begleiter des badischen Staatspräsidenten bei offiziellen Anlässen einnahm“. Die Kammer prüfte, ob als Maximalsanktion die Aberkennung des Ruhegeldes und der Hinterbliebenenversorgung in Betracht käme, machte dann aber auch mildernde Umstände aus. Diese bestünden darin, „dass der Angeklagte offensichtlich mit starker Energie gegen die aus seiner unglücklichen Veranlagung zusammenhängenden Neigungen angekämpft hat, wie vor allem daraus hervorgeht, dass er in seiner gleichgeschlechtlichen Betätigung nie über einen gewissen Grad hinausgegangen ist“. Folglich lautete das im Oktober 1933 ergangene Urteil: Aberkennung der Amtsbezeichnung und des Ruhegehaltsanspruchs „bis auf 60% des derzeitigen Ruhegehalts“.
Während sich viele Betroffene der nationalsozialistischen „Säuberungspolitik“ von 1933 in den ersten Nachkriegsjahren um ihre Rehabilitierung, die auch den finanziellen Ausgleich erlittener Schäden in ihrem Einkommen umfasste, bemühten, scheint der Fall des 1958 gestorbenen Karl Frech nicht noch einmal aufgerollt worden zu sein. Vermutlich scheute der Ministerialrat a. D., der diesen Titel nicht mehr führen durfte, erneute amtliche Erörterungen seiner sexuellen Orientierung, die sich mit der Einleitung eines Wiedergutmachungsverfahrens wohl kaum hätten vermeiden lassen können. Dass ein solches ausblieb, kam Frechs Amtsnachfolger Müller-Trefzer nach 1945 entgegen. Der Spruchkammer und seiner vorgesetzten Behörde, die über die Höhe seines Ruhegehalts zu befinden hatte, gegenüber betonte Müller-Trefzer die Rechtmäßigkeit der eigenen Beförderung im Frühjahr 1933: Diese sei ein ganz normaler Vorgang gewesen, da sein Vorgänger nicht aus politischen Gründen, sondern „wegen eines schweren kriminellen Vergehens“ aus dem Amt geschieden sei – wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte Frech schließlich inzwischen Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht.
Quelle: GLA 233 29437