Wie ein Justizinspektor einen Landgerichtspräsidenten aus dem Amt brachte: Der Fall Karl Götz aus dem Jahr 1937
In den retrospektiven Aussagen von Beamten über ihr politisches Verhalten im „Dritten Reich“ findet sich häufig das Argument, dass ein äußerer Konformismus zur Erhaltung der eigenen beruflichen Stellung alternativlos gewesen sei, da es allerorts nationalsozialistische Scharfmacher gegeben habe, die vermeintliches politisches Fehlverhalten sofort den Parteistellen gemeldet hätten. In allen Behörden habe es, so die zum Beispiel in den Spruchkammerakten massenhaft überlieferte Einschätzung, nationalsozialistische Spitzel und Denunzianten gegeben, die aus politischem Übereifer, Geltungssucht oder aus Bosheit die Nichtparteigenossen und auch die bloß nominellen NSDAP-Mitglieder genau überwacht oder sogar systematisch drangsaliert hätten. Jede einzelne solcher Aussagen ohne Weiteres für bare Münze zu nehmen, widerspräche den Grundsätzen der historischen Quellenkritik, da die Zweckbestimmung, nämlich die Selbstentlastung, offenkundig ist. Sie pauschal als Rechtfertigungsfiktionen zu verwerfen, verbietet sich jedoch ebenfalls, da immer wieder Quellen begegnen, die Spitzelei und Denunziantentum tatsächlich greifbar machen. Ein Beispiel hierfür sei im Folgenden vorgeführt.
Der Leidtragende war in diesem Fall der Richter Karl Götz, der seit 1899 im badischen Justizdienst stand, noch zu großherzoglichen Zeiten Stellen an verschiedenen Gerichten des Landes versehen hatte und während des Ersten Weltkriegs in die Justizverwaltung gewechselt war. Seit 1919 war Götz im Justizministerium etatisiert: zunächst als Oberregierungsrat und seit 1923 als Ministerialrat mit Zuständigkeit für Personalangelegenheiten. Diese Position verlor er mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Karlsruhe, weil der neue Justizminister Otto Wacker in den Leitungsfunktionen seines Ministeriums nur Personen duldete, die er für politisch zuverlässig hielt beziehungsweise denen er zutraute, sich mit den Arbeitsbedingungen einer Ministerialbürokratie in der Diktatur rasch zu arrangieren.
Warum Wacker Götz mit Skepsis begegnete, erschließt sich aus dessen Personalakte nur ansatzweise: In einem dort überlieferten Personalbogen aus dem Jahr 1936 gab Götz an, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ohne Parteibuch den Nationalliberalen nahegestanden zu haben. Um nicht wegen seiner katholischen Konfession für einen Zentrumsanhänger gehalten zu werden, habe er sich 1919 der Deutschen Demokratischen Partei angeschlossen. Der aus jener hervorgegangenen Staatspartei habe er bis zur Machtübernahme der NSDAP angehört. Selbst nationalsozialistisches Parteimitglied zu werden, habe ihn die Aufnahmesperre gehindert, die zum 1. Mai 1933 wirksam wurde. Götz war also im Frühjahr 1933 nicht willens beziehungsweise nicht in der Lage gewesen, sich den neuen Machthabern nachdrücklich anzudienen. In deren Wahrnehmung gehörte er jedoch mit seiner liberal profilierten politischen Biographie auch nicht zu der Gruppe von Beamten, die wie die Sozialdemokraten oder exponierte Zentrumsanhänger aus dem öffentlichen Dienst ganz verdrängt werden sollten. Im Fall Götz bestand die Lösung der Personalfrage deshalb darin, ihn auf einen als weniger wichtig als die bisherige Stellung erachteten Posten abzuschieben: Das beträchtliche Stühlerücken, das in der badischen Justiz 1933 vollzogen wurde, führte ihn schließlich als Landgerichtspräsident nach Konstanz, wo er mit ähnlichem Salär wie als Ministerialrat, aber ohne den bis dahin innegehabten justizpolitischen und administrativen Einfluss in den folgenden Jahren seinen Dienst versah.
Nach seiner Abschiebung an den Bodensee sah Götz offenkundig keinen Anlass mehr, sich als politischer Systemkonformist zu profilieren. Dies wurde ihm im Herbst 1937 zum Verhängnis, als ihn der Konstanzer Justizinspektor Friedrich Bittiger, der zugleich das Amt eines Kreisstellenleiters im Amt für Beamte der NSDAP innehatte, bei der Gauleitung anschwärzte. Gegenstand der Denunziation war der nachlässige Umgang des Landgerichtspräsidenten mit dem sogenannten Hitlergruß. Als Bittiger Anfang August 1937 Götz auf ein Rundschreiben der Gauleitung, das die Anwendung des „Deutschen Grußes“ in und außer Dienst „in gehöriger Form“ anmahnte, aufmerksam machte, scheint dieser die nötige politische Vorsicht vergessen zu haben. Außer Dienst grüße er nicht immer wie vorgeschrieben, so trug Bittiger die Replik des Landgerichtspräsidenten weiter: „insbesondere Damen gegenüber wende er den Deutschen Gruss nicht an, weil das so dumm (oder so komisch) aussehe. Es sei schon vorgekommen, dass er bestimmte Personen mit dem deutschen Gruss gegrüsst habe, sie hätten den Gruss gar nicht erwidert, sodass er zur Auffassung gekommen sei, als fühlten sich die Leute dadurch vor den Kopf gestoßen“.
Leopold Mauch, Gauamtsleiter im Amt für Beamte der NSDAP, dem Bittiger diesen Vorfall zugetragen hatte, hielt die Aussage von Götz für so empörend, dass er die Aufsichtsbehörde in Person des Oberlandesgerichtspräsidenten Heinrich Reinle darüber in Kenntnis setzte. Es sei „nachgerade ein starkes Stück“, so Mauch in seinem Schreiben vom 10. November 1937, „um keinen härteren Ausdruck zu gebrauchen, wenn ein Beamter des Dritten Reiches sich scheut oder gar schämt, den Deutschen Gruss anzuwenden, weil irgendein versteckter Gegner des heutigen Staates ihn scheel anblickt, oder einer, der den Aufbruch einer neuen Zeit verschlafen hat, den Deutschen Gruss nicht kennt oder nicht kennen will“. Ganz unverständlich sei dies im Falle eines Behördenleiters, der die ihm unterstellte Beamtenschaft nicht „im Geiste der Bewegung führen“ könne, „wenn ihm nicht einmal die Anfangsgründe des nat.soz. Einsatzes eigen sind. So wie seine empörende Äusserung und Einstellung zur Frage des Deutschen Grusses, zeigt sich auch seine sonstige Haltung als Behördenleiter. Unnahbar und ablehnend für die Nöte der unteren Gefolgschaft, ohne Sinn für die Betriebsgemeinschaft, ohne besondere Opferfreudigkeit trotz guter Einkommensverhältnisse“. Eine Handlungsempfehlung gab Mauch Reinle auch sogleich: „Da Landgerichtspräsident Götz nicht einsehen will, dass er fehl an seinem Platze ist, möchte ich annehmen, dass Ihnen, Herr Oberlandesgerichtspräsident, dieser Vorfall Anlass bieten wird, die Zurruhesetzung des Landgerichtspräsidenten Götz in die Wege zu leiten“.
Anders als in etlichen ähnlichen Fällen, in denen die für Personalfragen zuständigen Leiter staatlicher Behörden solche Beschwerden von Parteiseiten dilatorisch behandelten oder aussaßen, reagierte Reinle rasch und forderte Götz zu einer Stellungnahme zu dem Vorfall auf. Der Konstanzer Landgerichtspräsident kam dieser Aufforderung mit einem Schreiben vom 23. November 1937 nach, in dem er betonte, sich bei der Anwendung des „Deutschen Grußes“ immer pflichtgemäß verhalten zu haben; die von Bittiger weitergetragene Äußerung über den Verzicht auf diese Grußform gegenüber Damen bagatellisierte er als scherzhafte Bemerkung, denn er habe von „bejahrten“ Damen gesprochen, die „den Arm doch nicht hochbrächten und dabei einen kläglichen – vielleicht sagte ich komischen – Anblick böten“. Zu der weitergehenden allgemeinen Kritik an seiner Behördenleitung äußerte sich Götz nicht, sondern verwies darauf, dass er erst zu konkretisierten Vorwürfen Stellung nehmen würde. Reinle, der schon im Vorfeld von dem Angriff der Parteistellen auf Götz mündlich unterrichtet worden war und vergeblich versucht hatte, diesen zur Zustimmung zu einer Wegversetzung aus Konstanz zu bewegen, war mit diesem Rechtfertigungsschreiben des Landgerichtspräsidenten wenig gedient. Er leitete es zusammen mit dem Protestschreiben Mauchs an das Reichsjustizministerium in Berlin weiter – offenkundig, weil er selbst keine Vermittlungsmöglichkeiten mehr sah.
Auch im Reichsjustizministerium war man zu keiner schnellen Entscheidung im Stande und spielte den Ball nach Karlsruhe zurück: Zwischen den Aussagen Bittigers und Götz‘ bestünden erhebliche Diskrepanzen, die durch eine persönliche Einvernahme beider geklärt werden müssten. Diese erfolgte am 20. Dezember 1937 in Karlsruhe, ohne dass Götz und Bittiger ihre bisherigen Stellungnahmen substantiell revidierten. Das Protokoll der Befragungen leitete Reinle noch am gleichen Tag mit einem nur ganz vorsichtigen Plädoyer zugunsten des Landgerichtspräsidenten an das Reichsjustizministerium weiter: „Der Darstellung des Präsidenten Götz kommt eine gewisse größere innere Wahrscheinlichkeit zugute. Doch ist auf der anderen Seite auch nicht zu verkennen, daß er zu etwas polternder Grobheit neigt und ihm insofern ein Herausplatzen mit besser nicht geäußerten Gedanken schon zuzutrauen ist“. Eines Vorschlags über die „weiter zu ergreifenden Maßnahmen“ wollte sich Reinle vorerst noch enthalten.
Eine weitere Reaktion des Reichsjustizministeriums ist in der Personalakte nicht überliefert, so dass offen bleiben muss, ob Reinle in der Folge eigeninitiativ oder etwa nach fernmündlicher Rückversicherung in Berlin handelte. Jedenfalls setzte er dem Streitfall am 5. Januar 1938 ein Ende mit einem persönlichen Schreiben an den 62-jährigen Götz, mit dem er ihn nötigte, um die Versetzung in den Ruhestand nachzusuchen: Der Streit um die Anwendung des „Deutschen Grußes“ sei nur das Vorspiel eines weiteren Angriffs der Gauleitung auf ihn. Aus mündlichen Mitteilungen habe er „ungefähr Kenntnis von dem, was die demnächst zu erwartende ausführliche Vorstellung noch enthalten“ werde. Natürlich würden auch die neuen Vorwürfe sorgfältig und unparteiisch geprüft werden; es liege aber auf der Hand, „daß diese Erhebungen für alle Beteiligten nicht wenig peinvoll sind, und gewiß werden sie auch Ihrem Gesundheitszustand, von dessen Verschlechterung Sie bedauerlicherweise ohnehin berichten müssen, nicht gerade förderlich sein“. Deshalb erschien es Reinle richtig, „wenn Sie rechtzeitig, bevor Ihr Gesundheitszustand sich durch weitere Aufregungen entscheidend verschlechtert, die durch § 70 DBG gebotene Möglichkeit eines früheren Übertritts in den Ruhestand nützen“. Mit der Bitte, ihn vom „endgültigen Entschluss bald in Kenntnis zu setzen“, verblieb Reinle „mit freundlicher Begrüßung und Heil Hitler!“ Ohne den Rückhalt beim Oberlandesgerichtspräsidenten, auf den er offenkundig bis dahin vertraut hatte, sah Götz keine andere Handlungsoption mehr und suchte am 7. Januar um seine Zurruhesetzung nach – als Opfer der Denunziation eines subalternen Beamten, der als Mitarbeiter der Konstanzer Kreisleitung den regionalen Parteiapparat der NSDAP gegen den Landgerichtspräsidenten zu mobilisieren verstanden hatte.
Quelle: GLA 240 Zugang 1997-38 1347.
aus: GLA 240 Zugang 1997-38 1347, S. 29-32.