„Die Politisierung der Schulen wird in den Ländern betrieben“ – Interview mit Dr. Jürgen Finger über die nationalsozialistische Bildungspolitik in Baden, Württemberg und im Elsass
Dr. Jürgen Finger, Gastwissenschaftler am Centre d’histoire de SciencesPo (CHSP) und am Deutschen Historischen Institut Paris, ging in seinem Vortrag im Rahmen der Tagung „Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20. Jahrhundert“ am 17. März 2016 in Karlsruhe der Frage nach, wie „badisch“ die deutsche Schulpolitik im Elsass (1940-1945) gewesen sei. Mit Projektmitarbeiterin Sina Speit sprach Dr. Jürgen Finger über die Bildungspolitik im „Dritten Reich“ sowie über landespolitische Agenden in Baden, Württemberg und im Elsass.
Sina Speit: Sehr geehrter Herr Dr. Finger, Sie haben in Ihrer Studie „Eigensinn im Einheitsstaat“ die NS-Schulpolitik in den Ländern Württemberg und Baden sowie im besetzten Elsass untersucht. Worin bestand das besondere Spannungsverhältnis zwischen Reich und Ländern hinsichtlich der Schulpolitik im „Dritten Reich“?
Dr. Jürgen Finger: Diese Frage kann man am besten beantworten, wenn man den längeren historischen Kontext betrachtet. Das am 18. Januar 1871 proklamierte Kaiserreich war formal ja ein Bund der souveränen Fürsten und Städte, auch wenn sich hinter dieser Fassade dann ein starker Nationalstaat herausbildete. Die Staaten hatten immer ein starkes Eigenleben und der Kulturföderalismus, darauf hat Thomas Nipperdey hingewiesen, war eine der zentralen Facetten dieses Eigenlebens. Die Schulen sicherten die Weitergabe von Geschichte und Staatstradition der Bundesstaaten an die nächste Generation und zugleich wurde dort deren deutsches Nationalbewusstsein geprägt. In der Trias Volksschullehrer – Pfarrer – Bürgermeister hatte der Lehrer noch in der kleinsten Gemeinde eine zentrale Funktion als Repräsentant des Staates vor Ort.
Auch in der Weimarer Republik gelang es den Ländern, die Schulpolitik als eines ihrer zentralen Politikfelder zu besetzen. Denn die konkrete Ausgestaltung des in der Weimarer Reichsverfassung enthaltenen schulpolitischen Programms provozierte massive Konflikte und blieb auf halbem Wege stecken. Schulpolitik gegen die Länder war damals nicht möglich. Falls es zur Vereinheitlichung von Standards kam, dann vereinbarten die Länder das untereinander – ähnlich wie heute in der Kultusministerkonferenz.
Die „Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ wirft dieses System über den Haufen. Nach einer Übergangsphase 1933 war klar, dass die schulpolitischen Grundsatzentscheidungen künftig in Berlin getroffen würden. Das deutlichste Zeichen war die Ernennung des preußischen Kultusministers Bernhard Rust zum Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im April 1934.
Dieser konnte aber nicht bis zu den einzelnen Schulen und Lehrern „durchregieren“. Er war auf die Landesverwaltungen angewiesen. Reichsrecht musste ja vor Ort angewandt werden. Dazu brauchte es Durchführungsvorschriften und die Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. Dazu brauchte es auch Einzelfallentscheidungen vor Ort. Das sind die Einfallstore, über die die Länder (wenigstens die mittelgroßen Länder wie Baden und Württemberg, Bayern, Sachsen, Thüringen, Hessen) weiterhin Einfluss auf die Schulpolitik nehmen konnten. Mittel- und langfristig war der Trend zum Einheitsstaat nicht zu stoppen, dennoch konnten in den Ländern weiterhin eigene Akzente gesetzt werden – vorausgesetzt der politische Wille dazu war da. Aber eines ist natürlich klar: diese Akzente lagen alle innerhalb der Bandbreite nationalsozialistischer Bildungspolitik – die im Detail durchaus umstritten war. Hier geht es nicht um Opposition, sondern eher um eigene Profilierung im NS-Staat.
Sina Speit: Worin bestand die Eigensinnigkeit der Schulpolitik in Baden und Württemberg, und wer waren die handelnden Akteure?
Dr. Jürgen Finger: Aus staatsrechtlicher Sicht waren die Landesministerien eigentlich nur noch den Obersten Reichsbehörden nachgeordnete Verwaltungskörperschaften. Das Selbstverständnis der im März 1933 in Ministerämter und Verwaltungsposten eingerückten NS-Politiker war freilich ein anderes. Das waren machtbewusste NS-Politiker, die sich als politische Aktivisten sahen, nicht als Verwalter. Gerade die vielen ehemaligen Lehrer in der NS-Führung wollten nun ihre neugewonnene Gestaltungsmacht nutzen.
Schon 1933/34 kann man das beobachten – bevor es das Reichsministerium gab: Die Politisierung der Schulen wird in den Ländern betrieben. Teilweise werden sogar erste Strukturentscheidungen getroffen. Was als Provisorium gedacht war, blieb oft lange in Kraft. Denn das Reichsministerium benötigte Jahre, bis eine grundlegende NS-Schulreform verkündet werden konnte.
Und selbst dann hatten Landespolitiker noch Spielräume, man könnte da von einem gewissen Eigensinn sprechen. Ich denke, man muss mindestens drei Arten unterscheiden, wie die Landesverwaltungen weiter Einfluss nehmen konnten: Man konnte erstens schlicht weiterhin Politik zu machen, so wie Christian Mergenthaler. Dieser entfaltete immer wieder eigene Initiativen – mal mit Rückendeckung von Gauleiter Murr, mal ohne. Das sieht man etwa bei der Abschaffung der Konfessionsschulen oder bei der Übernahme der evangelisch-theologischen Seminare quasi im Handstreich. Zweitens konnte man in Berlin Lobbyarbeit betreiben und auf der Arbeitsebene Einfluss auf Entscheidungen nehmen. Und drittens konnte man bei der Umsetzung des Reichsrechts in Landesrecht und bei den konkreten Verwaltungsentscheidungen steuernd eingreifen: Das zeigt ein Vergleich zwischen der Entwicklung des mittleren und höheren Schulwesens in Baden und in Württemberg: Baden behielt fast alle altsprachlichen Gymnasien; Württemberg schaffte alle bis auf drei ab. Baden blieb zaghaft beim Ausbau der Mittelschulen und dann der Hauptschulen, die vor allem im ländlichen Raum errichtet wurden; Württemberg erlaubte sich ein ambitioniertes Ausbauprogramm im industriellen Kerngebiet um Stuttgart.
Mergenthalers badisches Gegenüber, Otto Wacker, war ebenso machtbewusst. Aber Wacker verfolgte eine andere Karrierestrategie, für ihn war Baden wohl eher ein Sprungbrett nach Berlin. Das war vielleicht einfach eine Generationsfrage: Wacker war 15 Jahre jünger als Mergenthaler, zum Zeitpunkt der Machtergreifung war er 34 Jahre alt. Trotz aller Einflussmöglichkeiten, für einen NS-Politiker seines Alters war die Landes-„Politik“ eine kupierte Karriere. Wacker stürzte sich 1937 in die Reichspolitik, wurde Chef des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium. Doch er verlor den internen Machtkampf mit dem Berliner Staatssekretär Werner Zschintzsch und zog sich wieder nach Karlsruhe zurück. Bildungspolitisch scheint er weniger profiliert als Mergenthaler oder auch als sein Ministerialdirektor Karl Gärtner.
Sina Speit: Das Elsass ist als besetzte Region und vom Land Baden verwaltet eine Besonderheit. In einem im großen Rahmen angelegten Austausch von Lehrpersonal (rund 1750 badische Lehrerinnen und Lehrer wurden im Elsass eingesetzt) wird außerdem die schulpolitische Verflechtung des Landes Baden mit dem Elsass deutlich. Wie ist dies historisch zustande gekommen?
Dr. Jürgen Finger: Entscheidend ist wohl, dass Gauleiter Robert Wagner früh badische Ansprüche auf das Elsass angemeldet hat – so wie Joseph Bürckel aus der Saarpfalz auf Lothringen. Eine Reichsland-Lösung wie 1871 galt es jedenfalls zu vermeiden. Das sah wohl auch Hitler so, der in „Mein Kampf“ über die zögerliche „Germanisierungpolitik“ des Kaiserreichs den Stab gebrochen hatte.[1] Mit dem Führerbefehl an die beiden Nachbargauleiter, die das Elsass und Lothringen „germanisieren“ sollten, ging große Macht einher, die eifersüchtig gegen die Berliner Reichsbehörden verteidigt wurde.
Dazu gehörte, dass man sich nicht von anderen Ländern und Gauen oder von den Reichsbehörden abhängig machte. So war es machtpolitisch wichtig, die Oberhand in der Personalpolitik zu haben, erst recht in einem personalintensiven Verwaltungszweig wie dem Schulwesen. Noch vor dem Angriff auf Frankreich und die Benelux-Staaten, nämlich im April 1940, blockte man deshalb Versuche des Reichs ab, badische Lehrer zur „Germanisierung“ des besetzten Ostens abzuordnen, denn man erhoffte sich in Karlsruhe „besondere neue Aufgaben“ im Elsass. Im Elsass sollte möglichst badisches Personal eingesetzt werden, höchstens noch andere „Südwestdeutsche“.
Die logische Konsequenz einer solchen Abkopplung war natürlich, dass Maßnahmen notfalls von den beiden Herrschaftsgebieten allein geschultert werden mussten. Das galt auch für den Lehreraustausch. Diesen hielten die Nationalsozialisten für zwingend nötig, um die elsässischen Lehrer und Lehrerinnen fachlich, didaktisch und vor allem weltanschaulich zu „schulen“.
Sina Speit: Wurde die badische NS-Schulpolitik auf das Elsass übertragen oder von dieser abweichende Strategien verfolgt?
Dr. Jürgen Finger: Wie vermutlich in anderen Bereichen auch, wird man das wohl mit Sowohl-als-Auch beantworten müssen. Grundsätzlich übernahmen die badischen Schulpolitiker vieles aus Ihrer Heimat. Aber sie mussten im Elsass weniger Rücksichten nehmen, etwa bei strukturpolitischen Entscheidungen. Die Entkonfessionalisierung des Schulwesens und die Beseitigung der kirchlichen Privatschulen, die im „Altreich“ Jahre gedauert hatten, konnte man hier in einem Federstrich erledigen. Das war die große Chance der „Germanisierung“, denn man überformte ohnehin in kürzester Zeit die bestehenden französischen Strukturen.
Langfristig, darauf deuten einige Planungen hin, hätten Reformen natürlich nach Baden zurückgewirkt. Der Gesamtgau „Oberrhein“ wurde nämlich zum neuen Planungs- und Handlungsraum der badisch-elsässischen Nationalsozialisten. Es wäre naiv zu glauben, dass die Etablierung neuartiger, genuin nationalsozialistischer Herrschaftsgebiete im Elsass, Lothringen aber auch in den Reichsgauen im ehemaligen Österreich und in Osteuropa nicht auch Folgen für die letztlich anachronistischen, nicht mehr zeitgemäßen „Länder“ des Altreichs gehabt hätte. Gerade weil in diesen Gebieten die Verschränkung von Staat und Partei viel effizienter war.
Insgesamt ist das Hauptinteresse jedoch, möglichst schnell Strukturen und Standards aus dem Reich und aus Baden auf das Elsass zu übertragen. Hitlers auf zehn Jahre ausgelegter Befehl zur „Germanisierung“ des Elsass und Lothringens durch die beiden Chefs der Zivilverwaltung, Wagner und Joseph Bürckel, war die Leitlinie – und die zehn Jahre wollten beide natürlich unterbieten.
Sina Speit: Welche Auswirkungen hatte die Abkommandierung auf die elsässischen Lehrerinnen und Lehrer und worin bestand die von Ihnen erwähnte „Umschulung“ für ihren Schuldienst in Baden?
Dr. Jürgen Finger: Die Auswirkungen sind unterschiedlich. Das hängt zunächst einmal von der Schulform ab: Lehrer an Oberschulen und Gymnasien wurde in der Regel nur für wenige Wochen nach Baden geschickt. Außerdem erfolgte deren Schulung gezielt in Universitätsstädten, um Ihnen ein gewisses Kulturangebot zu bieten – das ist auch so eine Art Werbeveranstaltung. Viele kommen aber eher ernüchtert zurück, weil der Niveauverlust an den deutschen Oberschulen kaum zu übersehen war – dessen waren sich ja auch die deutschen Lehrer und viele NS-Politiker (wenigstens unter der Hand) bewusst.
Schlimm war es für die Lehrer und Lehrerinnen an Volksschulen: Sie wurden einer Lagerschulung unterworfen, ein für das NS-Regime typisches Instrument, weil im Lager das Gemeinschaftsgefühl der zu Schulenden geweckt werden sollte. Danach wurden sie für Praktika an Volksschulen geschickt, um Unterrichtspraxis in deutscher Sprache und unter Anleitung erfahrener, politisch möglichst verlässlicher Lehrer zu bekommen. Tatsächlich waren sie oft Lückenbüßer. Denn das badische Schulwesen hatte ja massive Personalprobleme: viele junge Lehrer waren bei der Wehrmacht, andere mussten im Zug des Lehreraustausches ja im Elsass unterrichten.
Entgegen anderslautenden Zusagen ließ man die Elsässer schließlich nicht in Ihre Heimat zurückkehren. Aus der Schulung wurde eine dauerhafte Abordnung nach Baden – außer die Lehrer und Lehrerinnen waren bereit, im Elsass Funktionen in der NSDAP und ihren Organisationen zu übernehmen. Mit dieser und anderen Maßnahmen wiederholten die Nationalsozialisten letztlich denselben Fehler, den das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg begangen hatte: Für die Elsässer musste klar sein, dass die neuen Machthaber ihnen misstrauten.
Sina Speit: Wie ordnen Sie Ihre Forschung in den Zusammenhang der Grundlagenforschung über die nationalsozialistische Diktatur ein? Stellt Ihre Studie die bisher eventuell unterschätzten Einflüsse von regionalen Traditionen oder Landesbewusstsein in ein anderes Licht, und ist dabei die Bildungspolitik ein besonderes Feld?
Dr. Jürgen Finger: Es gibt schon seit geraumer Zeit immer mehr vorzügliche Studien zur Regionalgeschichte des Nationalsozialismus – von Landeshistorikern aber auch von Zeithistorikern. Ansatzpunkte können dabei ein Land, ein Gau oder Kreise und Kommunen sein. In diese Forschungstradition stellt sich auch meine Studie. Ich denke allerdings, dass der systematische Blick auf die Länder als politische Instanzen im „Dritten Reich“, so wie ich ihn verfolgt habe und wie er auch von der Kommission „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ verfolgt wird, wichtige neue Erkenntnisse bringt. Hier ist der Platz des „Eigensinns“, über den wir oben gesprochen haben – aber natürlich in den Grenzen, die das Reich und die NS-Weltanschauung setzten.
Das besondere an der Bildungspolitik ist, dass sie über die einzelnen Schulen und Lehrer tief in die deutsche Gesellschaft hineindringt. Nur in wenigen anderen Politikfeldern (zum Beispiel in der Gesundheitspolitik) ist außerdem die ideologische Überformung so stark, weil der Begriff der „Erziehung“ der Kinder und überhaupt aller „Volksgenossen“ so zentral ist. In meiner Studie kommt diese Seite, die Ideologisierung nur am Rande vor. Das war Absicht: Dazu ist schon viel Kluges geschrieben worden.
Neben der Nazifizierung ist aber oft das Alltagsgeschäft der Verwaltung und die systemische Entwicklung der regionalen Bildungssysteme etwas vernachlässigt worden. NS-Bildungspolitik wird gelegentlich auf die antihumanistischen, bildungsfeindlichen Impulse der Nationalsozialisten verkürzt. Die sind zentral, aber eben nicht das ganze Bild: Tatsächlich scheint mir die NS-Schulpolitik eine sonderbare Mischung zu sein aus braun angestrichener Modernisierung, gelegentlichem Strukturkonservatismus und dem radikalen Willen zur ideologischen Formierung.
Sina Speit: Wo sehen Sie im Hinblick auf die Landespolitiken in der NS-Diktatur noch Forschungsbedarf?
Dr. Jürgen Finger: Wenn ich zwei Wünsche frei hätte: Erstens würde ich gerne noch mehr über das Zusammenwirken der verschiedenen Ressorts erfahren, die ja starke Eigenlogiken haben. Sie sind einerseits eingebaut in den neuen Instanzenzug, mit den Reichsministerien als vorgesetzten Behörden. Andererseits sind sie gemeinsam immer noch Teil einer sonderbaren, staatsrechtlich nicht mehr so recht greifbaren Struktur namens „Land“, die im Südwesten weitgehend (Hohenzollern!) deckungsgleich ist mit dem NSDAP-Parteigau, dem neuen Machtzentrum. Gibt es eigentlich so etwas wie gemeinsame Politik – auch wenn die Regierungen als Kollegialorgan bedeutungslos geworden sind? Auf der Arbeitsebene müssen sich die Ressorts ja dauernd zusammenraufen.
Und zweitens würde ich gerne mehr über das Zusammenwirken von Landesebene, unteren Verwaltungsinstanzen und Kommunen erfahren: vom Schulhausbau, über Behördenansiedlungen und Krankenhäuser bis zur Infrastrukturplanung. Da geht es sozusagen um das „Brot und Butter“-Geschäft von Städten, Gemeinden und Kreisen. Damit kommen meines Erachtens ganz spannende Fragen aufs Tapet: Was ist ideologisch begründet, was ist Taktik oder vielleicht einfach administrative Gewohnheit, die in neuem Gewand erscheint? Wie funktioniert eigentlich kommunalpolitischer Lobbyismus im Nationalsozialismus? Wie werden Interessen gegenüber Land oder Gau vertreten?
Sina Speit: Vielen Dank für das Gespräch.
[1] Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel, München und Berlin 2016, Bd. 1, S. 281.
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